Zum Fall von Kindesmissbrauch in Münster hat es am vergangenen Wochenende neue Informationen gegeben. In einem Haus in einer Kleingartenanlage sollen drei Jungen im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren von mehreren Männern stundenlang schwer sexuell missbraucht worden sein. Mittlerweile hat die Polizei in Münster elf Verdächtige festgenommen.
Die Ermittler gehen offenbar davon aus, dass auch hier wieder ein ganzes Netz von pädophilen Tätern am Werk war. Es ist der dritte große Komplex von Kindesmissbrauch in NRW, nach Lügde und Bergisch Gladbach.
"Wieder hat die Öffentlichkeit nichts bemerkt"
Wie auch zuvor in den großen Missbrauchsfällen in NRW wollen Nachbarn und Anwohner des Täters nichts von dessen Treiben bemerkt haben. "Man ist einfach schockiert", sagt eine Bewohnerin des Münsteraner Mietshauses, in dem der Hauptverdächtige Adrian V. zusammen mit seiner Mutter gewohnt hat.
"Man hätte niemals gedacht, dass er sowas tut", meint auch ein Nachbar im Kleingartenverein "Bergbusch", in dem die Taten in der Gartenlaube der Familie geschahen. Er kenne den Mann und auch das Kind, das zur selben Grundschule gehe wie sein eigener Sohn. Die Kinder hätten oft zusammen gespielt.
Der 27-jährige Adrian V. hatte den Kleingartenverein offenbar kostenlos mit schnellem W-Lan ausgestattet, dennoch habe niemand etwas geahnt. "Das geht uns allen sehr nah", sagt ein anderer Anwohner, der die Kinder ebenfalls kennt. "Wieder einmal ist in der Öffentlichkeit nichts davon bemerkt worden", stellt er fest.
Warum war Adrian V. auf freiem Fuß?
Der Bund deutscher Kriminalbeamter (BDK) kritisiert, dass Adrian V. mit dem Kind seiner Freundin - das sein Opfer wurde - zusammen in einem Haushalt leben durfte, obwohl er bereits zweifach wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie verurteilt worden war, auf Bewährung. Im Mai 2019 hatte die Polizei bei Adrian V. dann große Mengen Daten sichergestellt. Doch die Ermittler brauchten ein Jahr, um diese Videos zu entschlüsseln.
"Wer Kinderpornografie besitzt, darf eigentlich kein Erziehungsrecht haben", sagt Oliver Huth vom BDK. "In meinem Koordinatensystem kann es nicht vorkommen, dass so jemand noch Zugriff auf Kinder hat." Die Behörden müssten in solchen Fällen "ganz engmaschig draufschauen". Nach geltendem Recht könne jeder Richter selbst entscheiden, welche Strafe und auch welche Resozialisationsmaßnahmen ein pädophiler Straftäter bekommt, krisitiert Huth. "Der Gesetzgeber muss den Strafrahmen hier deutlich erhöhen."
Innenminister Reul lobt die Polizeiarbeit
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) verteidigt zumindest die Arbeit der Polizei: Nach Aufdeckung der Missbrauchsfälle in Lüdge sei das zuständige Personal "vervierfacht" und die technische Ausrüstung der Polizei "verbessert" worden, sagte er am Sonntag (07.06.2020) in der WDR-Sendung Westpol. Zusätzlich seien "IT-Leute" eingestellt worden. "Seitdem decken wir einen Fall nach dem anderen auf", so Reul. Jeder neu entdeckte Fall zeige, dass die Polizei in NRW gut arbeite.
Weitere Aufdeckungen erwartet
Ähnlich sieht es auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP): Dass in NRW immer mehr Missbrauchsfälle bekannt werden, habe damit zu tun, dass die Ermittlungskapazitäten in dem Bereich erhöht worden seien, sagte der stellvertretende GdP-Landesvorsitzende Michael Maatz. "Deshalb müssen wir damit rechnen, dass in den nächsten Monaten weitere Gruppen von Kinderschändern auffliegen werden, zum Teil in Dimensionen, die sich bislang niemand vorstellen kann."
Ein großes Problem bei den Ermittlungen sei aber oft, dass die rechtlichen Bedingungen fehlten, um beispielsweise Namen von Tätern im Netz zu ermitteln, sagte Innenminister Reul im Westpol-Interview. Das sei eine "extrem schwere Herausforderung" - technisch und rechtlich. "Da gibt es in der politischen Landschaft durchaus Widerstände, bei diesen Sachen weiterzugehen".
Familienminister Stamp: Verzögerungen wegen Corona-Pandemie
NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) sagte am Sonntagabend in der Aktuellen Stunde, er plane eine Strafrechtsveränderung bei sexuellem Missbrauch, die derzeit in der Abstimmung mit dem Justizministerium sei. Er kündigte zudem eine Landesfachstelle an, die "im Sommer" eingerichtet werde und das Fachwissen von Experten zu dem Thema "in die Fläche bringen" soll. Ziel sei, Kita- und Grundschulpersonal besser zu sensibilisieren, damit Täter und Opfer künftig früher erkannt werden.
Ähnliches hatte die Landesregierung allerdings schon vor eineinhalb Jahren angekündigt, nach der Aufdeckung des systematischen Kindesmissbrauchs in Lüdge. Kompetente Fachleute seien "nicht mit einem Fingerschnippen zur Hand", verteidigte Stamp die Verzögerung. Nach Lügde seien viele Fortbildungen für Mitarbeiter der Kinder-und Jugendarbeit in NRW geplant gewesen, die jetzt "der Coronapandemie zum Opfer gefallen" seien und nun online nachgeholt würden. Das Problem sei jahrzehntelang unterschätzt worden.