"Die Lage wird sich in den kommenden Jahren in keiner Weise dramatisieren. Das wird sich alles wieder einpendeln", sagt der Kriminologe Bachmann von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln im Gespräch mit dem WDR. Bundesweit ist der Anstieg aber deutlich: Die Zahl tatverdächtiger Kinder (bis 14 Jahre) stieg 2022 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 um 16,3 Prozent, die Zahl tatverdächtiger Jugendlicher (14 bis 18 Jahre) um 6,8 Prozent.
BKA-Chef Münch rechnet mit schnellem Rückgang
Diese Zahlen präsentierte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der bundesweiten Kriminalstatistik am Donnerstag. Alarmiert klang aber auch er nicht. Münch verwies auf den deutlich höheren Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger in der Statistik. Nach den Zuwanderungswellen 2015 und 2016 seien die Zahlen schnell wieder zurückgegangen, was er auch jetzt für "eher wahrscheinlich" halte: "Mein Fazit ist also, dass diese auf den ersten Blick sehr negative Entwicklung noch nicht automatisch alarmierend ist. Wir müssen sie aber weiter beobachten."
Zum starken Anstieg trügen Geflüchtete bei, "die im Kontext kriegerischer Ereignisse aus den Herkunftsländern schlimme Erfahrungen mitbringen". Diese vulnerablen Altersgruppen seien bei den Geflüchteten besonders stark vertreten, bei den rund 1,1 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine machten sie 35 Prozent aus. Ähnliches gelte für Syrien. Das schlage sich in der Statistik wieder.
Nicht-Deutsche stärker von Risikofaktoren betroffen
Münch betonte, dass nicht-deutsche Minderjährige stärker von Risikofaktoren betroffen seien. Bei Diebstahldelikten - die das Gros der Taten bilden - seien beispielsweise ökonomische Aspekte und bei Gewaltdelikten Stress mögliche Auslöser. Ursachen, die insgesamt eine größere Rolle spielten: "Da kommen wir wieder zu dem Stichwort Corona. Solche Risikofaktoren sind fraglos in den vergangenen Jahren zusätzlich hinzugekommen", sagt Münch.
Dies entspricht dem, was Streetworker Jochen Baur von der Diakonie in Neuss bei seiner Arbeit erlebt. Bei den Kindern und Jugendlichen, "die mit die Hauptleidtragenden der Einschränkungen waren", habe sich während der Corona-Pandemie einiges aufgestaut. Seine Kollegin Marion Hardegen vom Sozialdienst katholischer Frauen verweist in diesem Zusammenhang auch auf das Problem der häuslichen Gewalt. Manche Kinder seien zu lange schlechten Vorbildern ohne soziales Korrektiv ausgesetzt gewesen. Es habe "soziale Interaktion in den Prägephasen" gefehlt.
Keine Verschiebungen bei Delikten
Die Ursachen für den Anstieg sind vielfältig. NRW-Innenminister Herbert Reul, der die Kriminalitäts-Statistik für sein Land bereits vor vier Wochen vorgestellt hat, verweist dabei aus naheliegenden Gründen auch auf Corona: "Es gibt wieder Gelegenheiten, die es es früher nicht gab, und das hat was mit Corona zu tun. Da bin ich relativ sicher", betonte er im WDR 5-Morgenecho. Daher fiel die Steigerung in NRW 2022 im Vergleich zum Corona-Jahr 2021 mit einem Plus von 41 Prozent bei den tatverdächtigen Kindern wohl auch besonders hoch aus.
Insgesamt müsse man sich die Straftaten bei Jugendlichen aber "noch einmal genauer angucken", so Reul. Das Fehlen eines Korrektivs - etwa durch Lehrer oder Mitschüler - in der Corona-Zeit sieht auch der Minister als Ursache: "Das Trainieren von Sozialkompetenz fällt weg oder wird geringer."
Deliktbereiche bleiben gleich - Trend bei Straftaten rückläufig
Deliktbereiche, in denen Minderjährige tatverdächtig sind, sind laut BKA-Chef Münch überwiegend Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Beleidigungen oder leichte Körperverletungen: "Daran hat sich nichts geändert." Der Kriminologe Bachmann erinnert zudem daran, dass man selbst mit den gestiegenen Zahlen noch weit von früheren Werten entfernt sei.
Kriminologe Mario Bachmann
Man habe jetzt etwa bundesweit rund 90.000 tatverdächtige Kinder, aber das sei deutlich weniger als zum Höhepunkt Ende der 90er Jahre: "1998 hatten wir 150.000 Tatverdächtige unter 14 Jahren, und auch im Jahr 2007 hatten wir noch über 100.000", so Bachmann. In NRW waren waren die Zahlen vor dem Anstieg im Jahr 2021 auf ein 35-Jahres-Tief gefallen.