Jacob Ross ist Experte für französische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er hat in Frankreich studiert und beobachtet die Polarisierung zwischen den großen französischen Städten und einigen ihrer Vororte seit Jahren. Es gebe eine "extreme Gewaltbereitschaft", sowohl bei Demonstranten als auch bei der Polizei, sagt er im Interview.
WDR: In den Vororten von Paris brennt es im wahrsten Sinn des Wortes. Im Zentrum der Stadt bekommt man das kaum mit. Ist das symptomatisch in der französischen Politik?
Jacob Ross: So lautet jedenfalls der Vorwurf, der jetzt wieder aus den Vorstädten im Norden von Paris kommt. Die Bewohner dort haben das Gefühl, dass der Staat sie im Stich lässt, dass sie sich selbst überlassen sind. Viele Menschen dort leben von Schwarzarbeit, gehen keiner regulären Tätigkeit nach. Sie haben das Gefühl, dass die Polizeipräsenz dort rassistisch motiviert ist, dass sie auf bestimmte Bevölkerungsgruppen sozusagen gezielt anspringt.
Und auf der anderen Seite gibt es in Paris und in der französischen Mehrheitsgesellschaft die Sorge um eine Ghettobildung. Dass diese Vorstädte mit der französischen Mehrheitsgesellschaft nicht viel gemein haben, dass dort teilweise andere Regeln gelten. Die Polizei spricht gern davon, dass man in diesen Vorstädten eigentlich keine Präsenz mehr zeigen möchte, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, weil man sie teilweise für verloren hält.
WDR: Solche tagelangen Unruhen in den Vorstädten gab es in Frankreich bereits in der Vergangenheit. Woher kommt diese große Wut, die sich da offenbar angestaut hat?
Ross: Das ist kein neues Phänomen, sondern spätestens seit 2005 auf der politischen Agenda. Damals waren die Unruhen ausgelöst durch den Tod zweier Jugendlicher, die vor der Polizei flohen und dabei durch einen Stromschlag ums Leben kamen. Nicolas Sarkozy, später Präsident, damals Innenminister, hat diese Stimmung noch aufgeheizt. Es gab diesen berühmten Ausspruch von ihm, dass man diese Vorstädte mit dem Kärcher reinigen müsse. Er sprach von Abschaum, von Gaunern.
WDR: Hat Frankreich ein Problem mit Polizeigewalt?
Ross: Ja, ich denke schon. Jetzt wird auch diskutiert über ein Gesetz, das 2017 in Kraft getreten ist, das den Waffeneinsatz für Polizisten in bestimmten Situationen gelockert hat. Seitdem gibt es eine Häufung solcher tödlichen Vorfälle. Dieser Fall jetzt wurde zufällig gefilmt - aber bei den Demos heißt es oft, dass es viele dieser Vorfälle eben nicht in die Medien geschafft haben, weil es kein Bildmaterial gab.
Man muss aber dazu sagen, dass es auch auf Seiten der Polizei bittere Klagen gibt über die Gewalttätigkeit, die der Polizei entgegenschlägt. Das war bei den Gelbwesten-Protesten schon so, die extrem gewalttätig waren. Damals wurde zum Beispiel breit über die Welle von Selbstmorden bei Polizisten berichtet, denen bei Demos der Gelbwesten entgegengerufen wurde „bringt euch um!“. Jetzt steht die Adresse der Familie des Schützen in den sozialen Medien. Es wird dazu aufgerufen, sich an der Frau und dem Kind des Polizisten zu rächen.
Man hat den Eindruck, dass bei solchen Demonstrationen, aber auch bei Polizeikontrollen in Frankreich, mittlerweile eine ganz andere Qualität der Gewalt mitschwingt. Auf beiden Seiten. Es ist einfach überall und auf allen Seiten eine extreme Gewaltbereitschaft.
Das Interview für die Sendung "Echo des Tages" bei WDR5 am 29.06.2023 um 18.30 Uhr haben wir für die Online-Version gekürzt.