Emmanuel Macron versprach "grundlegende Antworten" und kündigte ein Gesetz zur schnellen Beseitigung der Schäden an. "Wir werden alle Verfahren beschleunigen, um so schnell wie möglich wieder aufzubauen", sagte Frankreichs Präsident am Dienstag. Der Höhepunkt der Ausschreitungen sei überschritten, obwohl weiterhin Vorsicht geboten sei.
"Es ist die dauerhafte Ordnung, die wir als oberste Priorität angehen müssen." Die landesweite massive Polizeipräsenz solle weiter beibehalten werden, da sie abschreckend wirke. Wenn dies nicht ausreiche, sollten die Sicherheitskräfte "offensiv" vorgehen.
Schwere Krawalle in Frankreich
Seit dem Tod des 17-jährigen Nahel durch eine Polizeikugel bei einer Verkehrskontrolle am Dienstag vergangener Woche gab es in Frankreich schwere Krawalle. Wiederholt kam es zu Plünderungen, Brandanschlägen und gewaltsamen Konfrontationen zwischen Polizisten und Randalierern.
In der Nacht zu Dienstag hatte sich die Lage einigermaßen beruhigt. Insgesamt kamen nach Angaben des Innenministeriums 72 Menschen in Polizeigewahrsam. Auf dem Höhepunkt der Gewalt vor einigen Tagen waren es mehrere Hundert pro Nacht gewesen. Etwa 160 Autos gingen in Flammen auf, hinzu kamen etwa 200 Brände im öffentlichen Raum, unter anderem von Mülltonnen.
Schäden von 1 Milliarde Euro
Wirtschaftsminister Le Maire beziffert die Zahl der zerstörten Geschäfte auf 1.000. Er versprach, Sozialabgaben für die Händler auszusetzen. Auch die Versicherungsgeber wollen schneller entschädigen. Der Unternehmerverband sagt, dass die gesamten Schäden bei mehr als einer Milliarde Euro lägen. Allein der Pariser Verkehrsverband spricht von mehr als 20 Millionen Euro.
Mehr als 240 Bildungseinrichtungen wie Schulen sind beschädigt, 60 davon schwer. Der Bildungsminister hat aber versprochen, dass alle Schülerinnen und Schüler nach den Sommerferien unterricht werden.
Welche Konsequenzen zieht Frankreich?
Premierministerin Élisabeth Borne kündigte an, die Eltern der Randalierer zur Verantwortung zu ziehen - selbst wenn es ich nur um geringfügige Vergehen handele. Es soll Bußgelder und verpflichtende Kurse für Eltern geben, damit sie "lernen, ihrer Verantwortung nachzukommen."
Die Rechten kritisieren die zunehmende Einwanderung und fehlende Integration in Frankreich, die Linken pochen dagegen auf eine Debatte über Rassismus und Gewalt bei der Polizei.
Die rechte Partei "Rassemblement National" forderte, alle ausländischen Randalierer auszuweisen. Die Fraktionschefin der Linken will eine Wahrheitskommission einsetzen, um Fälle von Polizeigewalt transparent aufzuarbeiten.
Wie kam es zu dem tödlichen Polizei-Schuss?
Auslöser der Ausschreitungen war der Tod eines 17-Jährigen bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre. Dabei hatte zunächst eine Motorradstreife der Polizei ein mit drei Menschen besetztes Auto gestoppt. Ein vom Sender France Info verifiziertes Video zeigt, wie einer der Beamten mit seiner Waffe auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto zielt.
Die Situation scheint unter Kontrolle, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige am Steuer plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust. Das Auto fährt noch einige Meter weiter und rammt schließlich eine Straßenabsperrung.
Ein Mitfahrer, ebenfalls minderjährig, wird festgenommen und später wieder freigelassen. Der weitere Mitfahrer ergreift laut Staatsanwaltschaft die Flucht. Mittlerweile ist er gefasst. In einem Video, das ihm zugeschrieben wird, erzählt er, sei Nahels Fuß durch die Schläge mit dem Waffenschaft von der Bremse gerutscht. Deshalb habe sich das Auto in Bewegung gesetzt. Er habe Angst gehabt, dass die Polizei auch auf ihn schieße. Deswegen sei er weggerannt.
Wie erklären die Polizisten den Vorfall?
Laut France Info hatten die Streifenpolizisten zunächst ausgesagt, der Jugendliche habe sie überfahren wollen. Später seien sie von dieser Version wieder abgerückt und hätten erklärt, er habe ihren Anordnungen keine Folge geleistet und dann plötzlich Gas gegeben - von einer Tötungsabsicht war keine Rede mehr.
Nahel M. soll als Lieferant gearbeitet haben, aber durch Verkehrsdelikte wie Fahren ohne Führerschein aufgefallen sein. AP und AFP berichten unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft, dass er an dem Tag mit einem Mercedes mit polnischen Kennzeichen auf einer Busspur unterwegs gewesen sein und eine rote Ampel überfahren haben soll, als die Polizei ihn aufhalten wollte.
Der Polizist soll den Schuss damit gerechtfertigt haben, dass er befürchtet habe, dass er und sein Kollege oder jemand anderes von dem Auto überfahren werden könnten. Jetzt sitzt der mutmaßliche Schütze in Untersuchungshaft. Gegen ihn wird wegen Totschlagsverdacht ermittelt.
Spendenaktion für Familie des Polizisten soll gestoppt werden
Der umstrittene Spendenaufruf für die Familie des Polizisten soll am Dienstag um Mitternacht beendet werden. Das berichtet die Nachrichtenagentur AFP und zitiert damit den Initiator Jean Messiha, der das in einem Video gesagt haben soll. Bei der Aktion, über die viel diskutiert wird, waren bis Dienstagabend 1,5 Millionen Euro zusammengekommen - deutlich weniger als für die Familie des getöteten 17-Jährigen.
Kommt es in Frankreich häufiger zu Polizeigewalt als in Deutschland?
"Polizeigewalt ist in Frankreich viel verbreiteter als in Deutschland", sagt der Politikwissenschaftler Fabien Jobard dem WDR. Der Franzose, der selbst in einem Pariser Vorort lebt, ist Forschungsdirektor am nationalen Wissenschaftszentrum CNRS und hat sich schon oft mit Polizeigewalt beschäftigt.
Für einen nationalen Vergleich von Polizeigewalt gebe es keine klaren Zahlen, so Jobard. Man könne aber beispielhaft ein paar Zahlen aus Frankreich nennen, die man so in Deutschland bei weitem nicht habe:
- 13 Menschen starben in Frankreich allein im Jahr 2022 infolge von Polizei-Schüssen, während sie Auto fuhren.
- 30 Menschen haben zwischen 1995 und 2018 durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren.
- 25 weitere Menschen haben während der "Gelbwesten-Proteste" durch Gummigeschosse der Polizei ein Auge verloren.
Die Polizeigewerkschaft weist wiederum auf die Lebensgefahr bei Einsätzen hin.
Die Anwendung von Gewalt durch die Polizei ist auch in Deutschland keine Seltenheit. Das zeigt unter anderem die umfangreiche Studie "Gewalt im Amt", an der auch Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein von der Ruhr-Uni Bochum mitgewirkt hat.
Wie kommt es zu der Polizeigewalt in Frankreich?
Die Polizei trete in Frankreich grundsätzlich viel aggressiver auf als in Deutschland, sagt Jobard. Das zeige sich zum einen in ihrem Verhalten, zum anderen in ihrer Ausrüstung.
Forschungen hätten gezeigt, dass vor allem bei Polizeieinsätzen in den Banlieues - also in den dicht besiedelten Vororten großer Städte, insbesondere Paris - "grundsätzlich konfrontative Handlungsmuster" zu erkennen seien.
Oft seien Polizisten bei der ganz normalen Streife mit Helm, Schutzanzügen und Hartgummiwaffen in der Hand unterwegs. Statt freundlich um etwas zu bitten, herrsche ein Befehlston vor. Hinzu komme ein "gewisser Grad an Missachtung, der zu Gewalt führen kann", sagt Jobard.
Ändern lasse sich das alles nur schwer, meint er. Das hänge mit der besonderen wirtschaftlich-sozialen Situation in den Banlieues zusammen, aber auch mit den Polizeigewerkschaften, die in Frankreich sehr stark seien, und kein Interesse hätten, etwas zu ändern. Außerdem habe die Politik kaum Handlungsspielraum. Grundsätzlich wolle sie angesichts der hohen Terrorgefahr in Frankreich durchaus, dass die Polizei in der Lage ist, hart durchzugreifen.