MEINUNG

Long Covid: So rücksichtslos gehen wir mit chronisch Kranken um

Stand: 22.10.2022, 09:00 Uhr

Wer öffentlich darüber spricht, an Long Covid erkrankt zu sein, der bekommt im Netz jede Menge Hass ab. Das sagt viel über den Umgang unserer Gesellschaft mit chronisch Kranken aus, meint unsere Kolumnistin Minh Thu Tran.

Von Minh Thu Tran

Als die Autorin Margarete Stokowski in der Bundespressekonferenz mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auftritt, sieht sie müde und abgeschlagen aus. Lauterbach hatte sie eingeladen, um über Long Covid zu sprechen. Sie schildert, wie sie, eine junge, gesunde Frau, die drei Mal geimpft war, im Januar an Covid erkrankt ist - mit einem wohl relativ milden Verlauf.

Autorin Margarete Stokowski zu Gast in der Bundespressekonferenz | Bildquelle: ddp/Andreas Gora

Das Problem: Danach wurde sie einfach nicht wieder gesund. Tägliche Kopfschmerzen, Fatigue, also starke körperliche und geistige Erschöpfung, Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, sie ist deutlich weniger belastbar. Schon Duschen oder zu telefonieren strengt sie so an, dass sie sich hinlegen muss.

Long Covid wird oft unterschätzt

Studien zufolge erkranken 4,5 Prozent der Omikron-Infizierten an Long Covid - bei der Vorgängervariante Delta waren es doppelt so viele (10,8 Prozent). Die Symptome sind vielfältig: Am häufigsten sind starke Erschöpfung, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen. Grundsätzlich können die Beschwerden mit der Zeit nachlassen - ein Teil der Betroffenen wird auf absehbare Zeit aber nicht gesund werden. Ärzte können nur versuchen, die Symptome zu lindern.

Der Bundesgesundheitsminister warnt seit Monaten vor Long Covid und den möglichen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft - er weist auch darauf hin, dass das Gesundheitswesen nicht im Ansatz dafür gemacht ist, die vielen Fälle zu versorgen. Dass Long-Covid-Betroffene weniger leistungsfähig werden, sei auch ein Problem für den Arbeitsmarkt.

Häme und Hass im Netz

Genau diese Schlüsse machen mich betroffen - denn sie zeigen, dass unsere Gesellschaft chronisch kranke Menschen nicht wirklich als gleichwertige Mitbürger:innen begreift, sondern als Belastung, die nicht zur Wirtschaftsleistung beitragen und das Gesundheitssystem belasten.

Das äußert sich dann vor allem an hämischen und abwertenden Kommentaren, besonders hässlich im Netz. WELT-Blogger Rainer Meyer, besser bekannt als "Don Alphonso" macht sich über Stokowski lustig - er postet ein Bild von einer Schürfwunde und schreibt dazu: "Es gibt zwei Arten von Autoren. Die einen rennen wegen der normalen Härte des Daseins zu Lauterbach in die BPK" - und vergleicht eine harmlose Schürfwunde mit einer ernsthaften chronischen Erkrankung.

Die ehemalige Springer Journalistin Judith Sevinç Basad, die inzwischen für Julian Reichelt arbeitet, teilt zum Beispiel eine Collage von Fotos aus Stokowskis Sozialen Medien - beim Nägel lackieren, lächelnd mit neuen Tattoos, mit dem selbstgebackenen Bananenbrot und kommentiert dazu hämisch: "Long Covid - und dabei Brot backen und sich tätowieren lassen. Einfach richtig schlimm."

Auch chronisch Kranke haben ein Recht darauf, glücklich zu sein!

Kommentare wie diese sind böswillig und menschenverachtend. Was sollen kranke Menschen denn sonst tun? Sich im Bett verkriechen und bloß nicht mehr in die Öffentlichkeit treten? Wie sehen "kranke" Menschen überhaupt aus?

Fast die Hälfte der Erwachsenen leidet unter chronischen Krankeiten

Viele Menschen in Deutschland sind chronisch krank - und vielen sieht man es nicht an. Insgesamt haben über 49 Prozent, also fast die Hälfte der erwachsenen Menschen in Deutschland, eine oder mehrere chronische Erkrankungen. Auch viele junge Menschen sind betroffen - bei jungen Frauen unter 30 sind gut 20 Prozent chronisch erkrankt, bei jungen Männern sind es gut 17%. Die Palette an chronischen Krankheiten ist groß: Long Covid, Arthrose, Herzkrankheiten, chronische Rückenschmerzen oder Migräne, Endometriose-Betroffene mit chronischen Schmerzen, psychische Krankheiten.

Autorin Minh Thu Tran | Bildquelle: Linh Nguyen

Chronische Erkrankungen sind nicht nur gesundheitlich eine enorme Belastung. Die Betroffenen sehen sich vielen Vorurteilen ausgesetzt, befürchten auf der Arbeit benachteiligt zu werden, schlucken lieber noch zwei Schmerztabletten mehr, statt einen Tag auf der Arbeit zu fehlen - so machen das viele, bis ihre Erkrankungen mit der Zeit so schlimm werden, dass sie arbeitsunfähig sind.

"Armut macht krank, aber Krankheit macht auch arm. Die Sorge davor, wegen der chronischen Erkrankung den Job zu verlieren oder gar nicht mehr arbeiten zu können und dadurch in Armut zu rutschen, ist bei vielen groß." Minh Thu Tran, Kolumnistin

Wir brauchen mehr Solidarität und Empathie

Kommentare über den fehlenden wirtschaftlichen Nutzen von chronisch kranken Menschen, verächtliche, herablassende Bemerkungen über Kranke zeigen: Erstaunlich viele Menschen sind nicht dazu bereit, solidarisch mit den Schwächeren in der Gesellschaft umzugehen.

Chronisch krank sein, das kann jeden treffen. Umso wichtiger, dass wir ihnen Unterstützung geben und Verbesserungen fordern. Etwa in Form von verträglicheren Arbeitsmodellen und Schutz vor krankheitsbedingten Kündigungen. Oder im Gesundheitssystem: Viele chronische Krankheiten, wie z.B. Long Covid sind wenig erforscht, die Therapiemöglichkeiten begrenzt und die Versorgungslage schlecht. Vor allem chronisch Kranke, die in Armut rutschen, können sich häufig teurere, von der Krankenkasse nicht übernommene Therapien und Hilfsmittel nicht leisten.

All das wären mögliche politische und systematische Verbesserungen der Situation von chronisch Kranken in Deutschland. Was ich noch schöner finden würde: mehr Empathie. Und das kann wirklich jeder von uns leisten.

Welche Erfahrungen haben Sie mit chronischen Erkrankungen gemacht? Kennen Sie Menschen, die darunter leiden? Was könnte ihnen helfen? Lassen Sie uns darüber diskutieren! Hier in den Kommentaren und auf Social Media.

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Kommentare zum Thema

  • Systemüberlastung 28.10.2022, 09:40 Uhr

    Long Covid ist in erster Linie zunächst einmal nur ein neuer Begriff. Dieser muss seine Stichhaltigkeit unter Beweis stellen. Ich erinnere an Burnout, zunächst jahrelang zurecht nur als symptomatisch Sammelbegriff angewendet, der bei vielen Erkrankungen des WHO ICD Kataloges beschreibend zutraff, verselbsständigte sich der Begriff zur Diagnose? Letztendlich trug WHO diesem;Impact; durch permanente Erwähnung(eigentlich schon Überbetonung) in den Medien Rechnung und führt seit 2022 im ICD 11 Katalog den Begriff Burn-out, wenngleich nur als;berufsspezifisch;. Es werden 3 Kriterien(Dimensionen) angeführt : ein Gefühl von Erschöpfung eine zunehmende geistige Distanz oder negative Haltung zum eigenen Job ein verringertes Leistungsvermögen im Beruf.; Wem das allgemein vorkommen sollte, dem sei gesagt: Wenn Symptome zur Diagnose erhoben werden, dann ist das Gesundheitswesen auf dem Wege zur; VEGETATIVEN DYSTONIE;? Oder mit anderen Worten, kommt es zur Systemüberlastung?

  • Michael 26.10.2022, 11:03 Uhr

    Danke für diese klare und hilfreiche Kolumne. Mitunter beschleicht mich ein wenig der Eindruck, als würde hier von den letzten Resten müffelnder Patriarchen gegen eine junge und engagierte Kämpferin gegen eben jenes Patriachat geschossen... Margarete Stokowski und all den anderen langzeiterkrankten Menschen wünsche ich alles Gute, bleibt aufrecht!

  • Bernd 24.10.2022, 17:48 Uhr

    Was glauben sie wie sich Menschen fühlen, die ihr Leben lang gespart haben und seit Jahren verzweifelt gegen die Inflation ansparen. Es gibt auch andere Menschen, als die mit Long-Covid, die ausgelaugt sind. Ausgelaugt von einer Politik, die sich gegen jeden wendet, der sich über seinen wirtschalftlichen Erfolg und sein Geld definieren muß. Aber in den Medien wird immer nur von denen geredet, die der Rot/Grünen Regierung stimmen bringen sollen. Sozialismus macht uns Menschen auch Krank, aber darüber redet niemand.

    • Josef M. 25.10.2022, 12:08 Uhr

      Zustimmung, zu viel hysterische Katastrophenstimmung, gepaart mit Inflation als greifbarer Katastrophe führt zur Überforderung und der Geist steigt aus. Zustimmung, bei den Grünen wird besonders stark falsch und/oder überreagiert. Keine Zustimmung, am Sozialismus kann man das nicht fest machen, neben Stimmungen entscheiden die Ergebnisse und da ist die Inflation real das Ende von so mancher wirtschaftlicher Existenz, wie auch Corona-Maßnahmen so manche wirtschaftliche Existenz vernichtet hat. Wenn einer nicht mehr kann, dann kann er nicht mehr. Wie viel auf Körper und wie viel auf den Geist fällt ist zunächst man nicht entscheidend. Für die Therapie wäre das später entscheidend aber wenn es durch Inflation kein Auskommen mit dem Einkommen gibt, ist es schwer Folgewirkungen zu therapieren; egal ob Sozialismus oder Kapitalismus, egal ob Corona-Maßnahmen oder der „Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten“ der Auslöser war.

    • Wotan, der Flieger 27.10.2022, 06:56 Uhr

      @ Bernd und Josef M.: Bei der "Rot/Grünen Regierung" vergessen Sie scheinbar die ordoliberal geführten Gelben. Erst ein Sondervermögen für die ausgeblutete Bundeswehr, dann (allgemeinere) "Geschenke" für die Bürger, dann hieß es, es sei (dieses Jahr) "kein Geld mehr da", dann angeblich völlige Unschuldigkeit und Unwissen im gelb geführten Finanzministerium ("Gasumlage"), das stets verlautbaren ließ, was alles NICHT möglich sei. Dann viel Herumgetrete in allerlei Richtungen, um dann "plötzlich" MÖGLICHKEITEN zu präsentieren. Und von dem gestandenen CDU-Fähnchen im Wind mit seinem März-Geplapper von einem "Gas-Embargo" fange ich hier erst gar nicht nochmal an. - Bei solchen Profilierungsversuchen werden auch bis jetzt noch halbwegs gesunde Mitbürger noch krank. Jedenfalls war das bei mir so, ich hätte teilweise im Strahl reihern können. Nicht, dass sowas chronisch wird! (Ich möchte mich für den Ausdruck bei allen (chronisch) Kranken entschuldigen.) Auch Angie hat/hätte heute Probleme.

    • Josef M. 28.10.2022, 01:17 Uhr

      @„Weiche Wotan, weiche“ (Wagners Rheingold); die Umstände geben massig Nahrung, dass Long-Covid mehr Problem des Geistes als des Körpers sein könnte. Aber zu sehr in die Umstände abzugleiten bringt uns im Kern auch nicht weiter. Hier wird die Frage nach Erfahrungen mit chronischen Erkrankungen gestellt und was helfen könnte. Krank ist krank, ob wirklich körperlich oder mehr der Seele weil einfach zu viel zusammen kommt, ist zweitrangig und können wir hier nicht wirklich entscheiden. „Empathie“ ist gefragt und dabei ist es gleichgültig ob es wirklich eine rein körperliche Krankheit ist oder nicht. „Hass im Netz“ ist inzwischen zur bedeutungslosen Worthülse geworden, Distanziertheit ist immer angebracht aber etwas Rücksicht wie man wen wie trifft sollte man schon beachten. Der Haltung in der Kernbotschaft folge ich nicht, dem Gegenteil aber auch nicht und vermeintlich überzogener „Sozialismus“ oder gelber „Ordoliberalismus“ ist möglicher Hintergrund aber mehr nicht.