MEINUNG

Enissa Amani über Proteste im Iran: "Die Angst darf uns nicht aufhalten!"

Stand: 15.10.2022, 06:00 Uhr

Enissa Amani wurde in Teheran geboren. Mit ihren politisch verfolgten Eltern musste sie Mitte der 80er Jahre nach Deutschland fliehen. Heute setzt sich die erfolgreiche Künstlerin und Aktivistin selbst für die Rechte der Menschen im Iran ein.

Von Enissa Amani

Ich stehe auf dem Römerberg in Frankfurt. Mehrere Tausend Menschen sind versammelt. "Jîn Jîan Azadi!" wird skandiert. Und meistens danach nochmal auf Deutsch: "Für die Frauen, das Leben, die Freiheit!" Laut und kraftvoll rufen sie. Ich sehe junge Menschen, alte Menschen - Menschen, die ganz unterschiedlich aussehen. Alle rufen in Einigkeit. Es ist, als ob ihre Herzen synchron vor Wut pochen. Vor Wut und in Trauer, aber mit großer Willenskraft.

Dieses Regime muss weg. Die Regierung im Iran muss weg. Diese "Theokraten" - was ein grässliches Wort. In Wahrheit sind es Diktatoren. Also rufen die Demonstrierenden auch: "Weg! Weg! Weg! Die Diktatur muss weg!

Immer wieder klopft mir jemand sanft auf die Schulter. Jedes Mal wenn ich mich umdrehe, sehe ich ein anderes vertrautes Gesicht mit feuchten Augen. Freunde und Freundinnen meiner Eltern. Lauter Amous und Khales, auf Persisch Tanten und Onkel, so wie man in der orientalischen Kultur eben alle Freund*innen der Eltern nennt.

"Wir kämpfen seit 30 Jahren!"

Viele von ihnen fragen mich mit vorsichtiger Stimme und mit Blick auf meine Sicherheitsleute: "Kennst du mich noch?" Manchmal fällt auch der Satz: "Ich kenne dich, da warst du noch sooo klein", und dann geht jemand in die Knie und zeigt auf eine Höhe zwanzig Zentimeter über den Boden. Ich war wohl sehr klein. Sehr, sehr klein. 

Mir kommen auch die Tränen. Nicht nur, weil es so schön ist, diese mutigen Menschen wiederzusehen, sondern weil wir WIEDER hier stehen, IMMER NOCH hier stehen. Weil ich von 20 Zentimetern auf 1,62 Meter gewachsen bin - und wir 30 Jahre später immer noch hier stehen. Mit den gleichen Forderungen. Mit dem gleichen Schrei nach Freiheit.

"Ich sehe die Hoffnung in Papas Augen"

Also stelle ich mich auf die Bühne und bin eine von Millionen Stimmen, die Freiheit einfordern: "Ich will diese Mörder in Genf vor dem Internationalen Gerichtshof stehen sehen, in Handschellen sollen sie dort stehen".

Papa steht am Bühnenrand und hat stolze, traurige, große Augen. Ich sehe die Hoffnung in seinen Augen, aber auch die Angst und die Frage: Wird es klappen? Nie werde ich - so wie er es tut - wissen, wie es ist, eine Heimat zu haben, sie als erwachsener Mensch in Angst verlassen zu müssen und dann nie wieder zu sehen. Jahrzehntelang jeden Tag hoffnungsvoll Nachrichten zu lesen mit der großen Frage im Herzen: Kommt der Tag? Kommt der Tag der Befreiung? Ist er nah? 

Es ist Oktober 2022 und ja, der Tag ist nah. Er ist nah. Iran befindet sich mitten in einer Revolution. Und nein, ich lasse keinen Funken Pessimismus zu - weder in mir noch in denen, auf die ich Einfluss haben kann.

"Iran befindet sich mitten in einer Revolution!"

Wir müssen diesen Vulkan an Mut brodeln lassen! Diesen unfassbar mutigen Menschen im Iran Hoffnung schenken, indem wir sie sichtbar machen. Ihre Kraft, ihren Mut, ihre Ausdauer sichtbar machen.

Im Iran sind an Autobahnbrücken große Banner aufgehängt: "Wir haben keine Angst mehr! Wir werden kämpfen". Ich möchte das von hier aus bestärken: "Und WIR werden EUCH von überall auf der Welt beistehen, WIR lassen EUCH nicht allein!"

"Die Befreiung der Menschen dort ist nicht verhandelbar. Uns darf weder die Angst noch die berechtigte Sorge um das 'Danach' aufhalten." Enissa Amani

Kann sich Iran im Express-Modus demokratisieren? Ich weiß es nicht. Wird das Land in viele Gebiete zerrissen werden? Maybe. Werden andere Länder den Moment strategisch ausnutzen wollen? Probably. Very Very wahrscheinlich sogar.

Entschuldigung. Ich verfalle in diesen Sprachmix, weil mir die Antworten auf solche Fragen gerade unwichtig erscheinen. Jetzt geht es erstmal um Menschenleben! Millionen von Menschenleben, die in dieser Regierung gekidnappt wurden und aus Angst vor Bestrafung, Folter, Inhaftierung und Tod stupide Regeln eines Regimes befolgt haben. Menschen, die immer wieder aufgestanden sind und immer wieder niedergeschlagen wurden. Diesmal nicht. 

"Diesmal ist alles anders!"

Diesmal ist der Funke kein Funke und das Feuer kein Feuer. Diesmal fließt ein Lavastrom an Widerstand stetig und unaufhaltsam durch die Straßen an den nach Safran duftenden Fenstern vorbei.

Ich habe ein Video gepostet. Eine ältere, weißhaarige Dame hat sich im Iran demonstrativ in die Herrenabteilung der Bahn gesetzt. Der ihr gegenüber sitzende Mann beschimpft sie. Ob sie keinen Anstand habe und keine Ehre, fragt er. Und warum sie aus einem Stück Stoff so ein Drama machen würde. Sie steht auf und gibt ihm eine riesige Ohrfeige. Noch nie hatte ich ein Video geteilt, in dem Gewalt ausgeübt wird, und diese auch noch gelobt.

Diesmal ist es anders. Das Video ist nämlich die Visualisierung von Menschenwürde.

"Ihr könnt Menschen nicht die Würde nehmen, ohne dass irgendwann eine riesige Ohrfeige die Konsequenz ist. Im echten und im literarischen Sinne."  Enissa Amani

Unter dem Video schreibt jemand: "Mit dieser Ohrfeige hat sie für eine Sekunde das Feuer unserer Herzen gelöscht". Ich pinne den Kommentar an und verspüre - genau wie die Verfasserin des Kommentars - eine große Genugtuung.

Solidarität von afghanischen Frauen

Es reicht! Die Welt ist voller Kriege, Krisen und Konflikte, die für uns alle sichtbar sind. Und wir werden diese Sichtbarkeit nutzen, um keine Verbrechen an der Menschlichkeit mehr davonkommen zu lassen. Wir werden da sein, selbst wenn Ozeane zwischen uns liegen, bis Dinge verändert werden.

Ein letztes Video teile ich, bevor ich mich an dem Tag schlafen lege. Afghanische Frauen halten mitten in Kabul auf einer Straße Schilder hoch und rufen: "Frauen, Leben, Freiheit!" Vor ihnen schießen Männer in die Luft, um ihnen Angst zu machen - doch die Frauen rufen weiter.

So gebeutelt von der Situation im eigenen Land stehen sie auf der Straße, um für ihre iranischen Schwestern im Nachbarland zu kämpfen. Ich muss das Handy weglegen, denn meine Tränen lassen mich eh nichts mehr erkennen. Die, die am wenigsten haben, geben - wie so oft - das meiste.

Ich schäme mich dafür, so weit weg zu sein, so wenig zu machen und mich sogar davon schon belastet zu fühlen, während die Menschen vor Ort sich bereit machen für die nächsten Kämpfe auf der Straße, die sie eventuell das Leben kosten.

"Danke, Jîna-Mahsa Amini!"

Ich erlaube mir das Handy wegzulegen. Beim Einschlafen denke ich an Jîna-Mahsa Amini. Danke, dass es dich gab. Mögest du mit dem friedlichsten Lächeln ruhen und wissen, wie dankbar wir dir sind. 

Vielleicht kommt der Tag, an dem mir Papa seine Heimatstadt zeigen und seine Schwestern wieder umarmen kann. Dann werden wir alle nach oben schauen und zu dir zurücklächeln.

Danke!

Was meinen Sie? Können die derzeitigen Proteste das Regime im Iran ins Wanken bringen und das Ende der Islamischen Republik herbeiführen? Lassen Sie uns darüber diskutieren! Hier in den Kommentaren und auf Social Media.

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Kommentare zum Thema

  • Internet-Abschaltungen 20.10.2022, 18:28 Uhr

    Ich stehe dem TOR-Netzwerk kritisch gegenüber. Doch Plakate schreiben + zeigen reicht mir aktuell nicht mehr. Es gibt das Browser-AddOn "Snowflake": U. a. rnd.de/digital/netzsperre-im-iran-umgehen-wie-snowflake-einen-weg-ins-freie-internet-ermoeglicht-so-kann-der-westen-SE3LNI5BKNHJHGJJK2UZHWHXRA.html und heise.de/hintergrund/Internetsperren-im-Iran-So-leisten-Sie-mit-Snowflake-Unterstuetzung-7281703.html - ganz wohl ist mir bei dem AddOn nicht, doch ich habe es aktuell im Gastkonto mit täglich wechselnder IP laufen, während ich als normaler Nutzer in meinem Konto arbeite. Das scheint gut zu funktionieren, ich muss halt im Gastkonto angemeldet bleiben. --- Was haltet ihr davon? Ich finde, wir sollten u. a. Iraner, Russen unterstützen, sich auszutauschen, Nachrichten in die Welt zu schicken. Ja, das AddOn kann auch böse ausgenutzt werden. Aber, hey, das Leben IST Risiko. Oder kennt ihr etwas Besseres als Snowflake? Habe keinen eigenen Server.

  • Anonym 19.10.2022, 21:52 Uhr

    So ein schön traurig wütender Artikel, ich hoffe so sehr dass die Familie Amani diesen Tag erleben darf!

  • Mariam Amini 19.10.2022, 21:11 Uhr

    Vielen Dank für den tollen Beitrag Enissa! Ich bin froh, dass es solche Menschen wie dich gibt 💚🤍❤️