Nobelpreisträger: Der Club der alten elitären Männer | MEINUNG

Stand: 11.10.2024, 06:00 Uhr

Wer den Nobelpreis bekommt, ist nicht zwingend ein Genie – derjenige hat es im System Wissenschaft nach oben geschafft. Das bleibt zu oft Privilegierten vorbehalten.

Von Caro Wißing

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Ich hätte Wetten abschließen sollen. Schon vor Bekanntgabe der Nobelpreise konnte ich nämlich die meisten Gewinner beschreiben: männlich, weiß, eher älter und von einer Uni in Nordamerika oder Europa. Und dazu brauche ich nicht einmal besondere hellseherische Fähigkeiten - einfach nur Grundkenntnisse in Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Die Beobachtung ist nicht neu, dass immer die gleichen Elite-Unis, kaum junge Forschende, selten Menschen aus dem globalen Süden und nur in rund sieben Prozent der Fälle Frauen ausgezeichnet werden. Nur in zwei Kategorien sind weibliche Preisträgerinnen besser vertreten: Literatur und Frieden.

Mein Gefühl sagt mir: Sich für Frieden einzusetzen, ist ja im Grunde nur eine besondere Art der Carearbeit. Und das können Frauen ganz gut. Vor allem wenn sie unbezahlt ist - wie bei vielen Friedensaktivistinnen. Wissenschaften wie Physik, Chemie, Medizin - die sind dagegen faktenbasiert, unemotional. Männerthemen.

Die Karriereleiter in Wissenschaften ist lang und auslaugend

Ok, wir stellen die Ironie wieder ab und gehen weg vom Gefühl. Wir schauen einfach nur auf Realitäten. Und da ist es nun einmal so, dass es bestimmte Privilegien braucht, um im Wissenschaftsbetrieb weit nach vorne zu kommen oder überhaupt Fuß zu fassen. Das ist ein globales Phänomen. Aber bleiben wir bei uns in Deutschland.

Der Weg in Wissenschaft und Forschung ist lang und steinig. Nach etwa fünf bis sieben Jahren Studium bis zum Masterabschluss, heißen die Schritte: Promotion, PostDoc, Junior-Professur, Professur. Alles in allem sind das noch einmal etwa 15 Jahre. 15 Jahre, in denen die Nachwuchsforschenden teils nicht viel Geld verdienen und sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln müssen. Denn in Deutschland gilt das WissZeitVG, also das Wissenschaftszeitvertragsgesetz.

In der Theorie soll das eine Fluktuation an den Hochschulen fördern, mehr Durchmischung, keiner soll sich im wissenschaftlichen Betrieb festsetzen. In der Praxis führt das dazu, dass junge Forschende unter enormem Druck stehen. Es ist ein einziger Wettlauf: regelmäßig wissenschaftliche Aufsätze veröffentlichen, Drittmittel für Projekte eintreiben, Anträge schreiben, daneben noch Lehrveranstaltungen geben und selbstverständlich auch noch die eigene Forschungsarbeit machen.

Gipfelsturm oder Absturz – einen Mittelweg kennt der Wissenschaftsbetrieb nicht

Nur wer in diesem Wettlauf mithalten kann, bekommt den nächsten befristeten Vertrag. Freunde, Familie und Freizeit stehen weit hinten an. Und am besten ist man auch noch örtlich flexibel. Wenn ein Projekt an der einen Uni ausläuft, muss man mit seiner Forschung an eine andere Uni, in eine andere Stadt oder gleich ins Ausland ziehen.

Am Ende schaffen es nur drei Prozent von den einstigen Promotionsstudierenden zu einer Professur. Man könnte jetzt sagen: "Na ja, muss ja nicht jeder gleich Prof werden. Reicht ja vielleicht auch eine Stufe darunter." Darauf ist das Hochschulsystem aber nicht ausgelegt. Unbefristete Stellen im Mittelbau existieren wegen des WissZeitVG nicht. Wer es also nicht bis ganz nach oben schafft, fliegt raus. In den Naturwissenschaften gibt es dann noch Chancen auf Forschungsstellen in der freien Wirtschaft - in Sozial- oder Geisteswissenschaften geht das fast gar nicht.

#IchBinHanna – ein Aufschrei ohne Folgen

Unter dem Hashtag #ichbinhanna teilen 2021 viele junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihren Frust. Und der ist riesig.

Mein gesamtes berufliches Leben ist bislang geprägt von Sorgen. Es ist unglaublich, wie viel Energie dafür draufgeht, permanent um die Zukunft zu bangen. Es belastet. Es lähmt. Es frustriert. Wer glaubt, sowas nütze der Wissenschaft, hat offenkundig keine Ahnung. #IchBinHanna Beitrag in sozialen Netzwerken

Das hat eine Debatte angestoßen über die prekären Arbeitsbedingungen an Hochschulen. Die Politik hat damals Besserung gelobt. Die aktuelle Regierung hat einen Reformwillen in den Koalitionsvertrag geschrieben. Außer Entwürfen für ein neues Gesetz, die von Betroffenen lautstark ausgebuht wurden, ist bisher nichts passiert.

Ich möchte nicht mehr zurücklassen müssen, was ich mir mühsam aufgebaut hab. Kooperationen. Netzwerke. Freundschaften. Ein Zuhause. Auch dieses Mal weiß ich: Die Zeit an der neuen Uni ist begrenzt. Ist sie abgelaufen, bin ich 42. #IchBinHanna hat Neuanfänge ohne Zukunft so satt. Beitrag in sozialen Netzwerken

Frauen werden benachteiligt in der Wissenschaft

Das System ist erst einmal für alle gleich. Aber einige sind mehr gekniffen als andere. Junge Menschen, deren Eltern nicht finanziell über Jahre unterstützen können und wollen. Von 100 Arbeiterkindern wird im Schnitt nur eines promovieren. Und vor allem benachteiligt das System Frauen. In diesem ohnehin verrückten Wettbewerb wird ihnen außerdem oft nicht die gleiche Kompetenz zugesprochen, wie männlichen Kollegen. Ihre Artikel werden seltener in Fachzeitschriften publiziert, sie erhalten weniger Forschungsgelder, werden seltener für ihre Arbeit ausgezeichnet und ziehen bei Stellenausschreibungen öfter den Kürzeren. Sie müssten sich also noch mehr ins Zeug legen. Viele haben darauf keinen Bock. Das verstehe ich.

Und ganz offensichtlich passt Forschen und Kinderkriegen nicht zusammen. Wer mit Anfang/Mitte 30 ständig um den neuen Vertrag fürchten muss, bekommt doch keine Kinder, ohne Existenzängste zu haben. Mögliche Ortswechsel, Auslandsaufenthalte kommen oben drauf. Das mag auch auf Väter zutreffen. Aber es sind halt die Frauen, die schwanger werden und dann für ein paar Monate ausfallen. Bei der Ellbogenmentalität an den Hochschulen ist das ein fetter Minuspunkt.

Wenn also wenig Arbeiterkinder, wenig Frauen, wenig Menschen mit Migrationshintergrund in die Wissenschaft finden, dann hat das Auswirkungen auf die Forschung. Schlaue Köpfe können ihren Ideen nicht nachgehen. Perspektiven fehlen. Vielleicht hätten wir längst Antworten auf drängende Fragen, wenn der Wissenschaftsbetrieb durchlässiger wäre nach oben.

Es braucht neue Strukturen, Sichtbarkeit und Frauennetzwerke in der Wissenschaft

Es muss sich also etwas ändern an diesem System. Vor allem muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen, die junge Wissenschaftlerinnen motiviert und ihnen eine Perspektive bietet. Die Karriere in der Wissenschaft muss ab der Promotion planbar sein. Das bedeutet genügend Stellen und das ohne Befristung bis zur Professur.

Es braucht gute Frauennetzwerke an Hochschulen. Männerbünde angefangen von Burschenschaften bis in die Lehrstühle sind immer noch da. Wissenschaftlerinnen müssen ihre eigenen Förderstrukturen aufbauen. Natürlich sollte es immer um Qualifikation gehen, aber wenn Männer weiter Männer fördern, sollten Frauen das gleiche tun.

Die Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen und ihrer Arbeit muss verbessert werden. Da sind die Medien gefordert, aber auch Institutionen, die Preise vergeben. Der Nobelpreis ist ein Negativbeispiel. Als wenn es nicht auch genügend bahnbrechende Forschung von Frauen gäbe, die geehrt werden könnte. Das Komitee könnte sich beispielsweise Leitlinien setzen, dass die Preise nur an gemischte Teams vergeben werden. Das hätte eine enorme Signalwirkung für all die jungen Frauen, die gute Ideen, Wissensdurst, Forschungsdrang haben.

Was denkt ihr, braucht der Nobelpreis ein Update? Was würde helfen, um Frauen in der Forschung mehr zu unterstützen? Lasst uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

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