Der vergangene Sommer wird für mich immer in Erinnerung bleiben - als der Sommer des 9-Euro-Tickets. Ich habe einen Studenten getroffen, der grinsend von sich erzählt hat, dass er eigentlich "dauer-broke" ist, also ständig pleite, aber mit dem 9-Euro-Ticket von Stuttgart nach Warnemünde gereist ist, um im Sommer auch mal ans Meer zu kommen. In den Sozialen Medien habe ich unzählige Geschichten gelesen von Alleinerziehenden und finanziell schwachen Familien, die das 9-Euro-Ticket genutzt haben, um endlich mit Kind und Kegel einen gemeinsamen Ausflug in die Umgebung zu machen.
Es war ein gewisser Hauch zu spüren - von Freiheit und Unbeschwertheit. Klar, die Bahnen waren zum Teil krass überfüllt und ich persönlich hätte vermutlich nicht die Strapazen auf mich genommen 16 Stunden lang mit der Regionalbahn vom Schwabenland bis zur Ostsee durchzutuckern. Trotzdem: Die Möglichkeit war plötzlich da, selbst mit sehr niedrigem Einkommen endlich mal zu reisen.
Reisen ist vor allem eine soziale Frage
Wenn wir über Armut sprechen, geht es häufig um Einkommensgrenzen, um Mindestbedürfnisse wie Kleidung, Essen oder eine Wohnung. Worüber wir weniger sprechen: dass Armut vor allem bedeutet sich ständig ausgeschlossen zu fühlen. Dass man weniger Möglichkeiten hat, Dinge zu erleben, die für alle anderen Familien scheinbar selbstverständlich sind. Kurz: Ärmere Menschen können weniger am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Das kenne ich aus meiner eigenen Kindheit sehr gut. Denn mit dem bescheidenen Lohn meiner Eltern, eines Schlossers und einer Putzkraft, war das Geld ständig knapp. Und auch wenn ich aus einer Gegend mit wunderschöner Natur komme - mit dem Bodensee, dem Schwarzwald, der Schwäbischen Alb direkt vor der Tür - die meisten dieser Orte in meiner Heimat konnte ich erst als Erwachsene besuchen. Die Kosten für einen kurzen Tagesausflug mit der Familie mit Bus und Bahn haben damals schon schnell die eines Wocheneinkaufs überstiegen.
Das 49-Euro Ticket ist fernab von der Lebensrealität von ärmeren Menschen
Das Deutschlandticket ist als Nachfolgeprojekt des 9-Euro-Tickets geschaffen worden. Bundesverkehrsminister Wissing (FDP) warb für das Ticket als "Multitalent": Es stärke klimafreundliche Mobilität, erhöhe die Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs und entlaste Bürgerinnen und Bürger. Die Frage ist: Wer soll mit dem Ticket entlastet werden?
Untersuchungen und Umfragen stellen fest: Von dem Deutschlandticket profitieren vor allem die Familien aus der Mittelschicht, die im Umland und in den Speckgürteln der Großstädte wohnen. Wer sich ein kleines Haus mit Garten in einer Kleinstadt leisten kann, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut angebunden ist, der kann sich dank des Ersparnisses durch das Deutschlandticket überlegen den Zweitwagen abzuschaffen. Wer etwa von Neuss nach Köln pendelt, hat bisher mit einem Monatsticket im Abo 209,60 Euro bezahlt. Da macht das 49-Euro-Ticket schon einen großen Unterschied.
Für wen sich das Ticket nicht lohnt, so die Mobilitätsforschung, sind einkommensschwache Menschen. Im Bürgergeld-Regelsatz etwa sind momentan lediglich 45 Euro für Verkehr vorgesehen. Und: Diese starren Sätze entsprechen häufig nicht der Lebensrealität. Vor allem in Zeiten von Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten müssen viele Bürgergeld-Beziehende das Geld, das für Mobilität vorgesehen ist, zum Beispiel für Lebensmittel ausgeben. Hier wären laut Bürgergeld-Regelsatz monatlich nur 174 Euro pro Person eingeplant.
Laut einer Umfrage des Instituts Verkehr und Raum an der Fachhochschule Erfurt, die Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen befragt hat, sind nur zehn Prozent der Befragten bereit oder imstande, 49 Euro für das Deutschlandticket zu zahlen. Im Mittel lag die Zahlungsbereitschaft für so ein Ticket bei 25 Euro. Sozialverbände fordern deshalb ein bundesweites 29-Euro-Ticket.
Menschen in Armut bei Mobilität nicht mitgedacht
Das Deutschlandticket soll Bürgerinnen und Bürger entlasten - doch dabei wurden die Menschen nicht mitgedacht, die die Entlastung am meisten brauchen. Klar, auch ohne das Deutschlandticket gibt es in den verschiedenen Städten und Gemeinden schon Sozialtickets, allerdings sind die Angebote kaum ausreichend. In Köln kostet ein einzelnes Sozialticket, das nur im Tarifgebiet gültig ist, zum Beispiel rund 45 Euro. Für einkommensschwache Menschen viel zu teuer, finde ich. Manche Kommunen in Deutschland bieten gar keins an.
Und auch beim Deutschlandticket setzt sich das fort: ob es ärmere Mitmenschen verbilligt bekommen werden, bleibt Ländersache. Das führt dazu, dass manche Bundesländer Ermäßigungen für Kinder und Jugendliche planen, aber nicht für einkommensschwache Menschen. In einzelnen Bundesländern soll es zwar billigere Tickets für ärmere Menschen geben, wie zum Beispiel hier in NRW. Aber, wann das überhaupt kommt, steht noch nicht fest. Auch Hessen plant im Zuge der Einführung des Deutschlandtickets ein Sozialticket - allerdings soll das nur in Hessen gültig sein. Und auch Studierenden geht es ähnlich: Einige Bundesländer planen schon vergünstigte Versionen auch für Studis, eine bundesweite Lösung ist jedoch frühestens Anfang 2024 in Sicht.
Dabei war der Grundgedanke des Deutschlandtickets doch, dass alle in Deutschland mit demselben Einheitspreis bundesweit mit dem Regional- und Nahverkehr fahren können. Der komplizierte Tarifdschungel sollte dann keine Rolle mehr spielen. Für viele Menschen, wie die, die von Bürgergeld oder Sozialhilfe abhängig sind oder auch für Studierende, gilt das nicht. Für sie gibt es weiterhin einen Flickenteppich an Angeboten, wenn es denn überhaupt welche gibt.
Nicht nur der Preis ist ausschlaggebend
Auch in anderen Detailfragen zeigt sich: Um einkommensschwache Haushalte hat man sich nur wenig Gedanken gemacht.
Erstens: Das Ticket wird nur im Abo angeboten, was für viele ein Hindernis ist. Ärmere Menschen wissen oft nicht, ob das Geld für das Ticket nächsten Monat überhaupt reicht und haben schlechte Erfahrungen mit Abos gemacht. Eine Kündigungsfrist geht im Alltagsstress schnell unter. Eine weitere Hürde: Mit negativer Schufa kann es sein, dass man das Deutschlandticket gar nicht kaufen kann. Denn bei Kauf per Lastschrift in den Apps der Deutschen Bahn und der regionalen Verkehrsbetriebe erfolgt oft eine Schufa-Abfrage - und die meisten Verkehrsbetriebe bieten tatsächlich nur Lastschrift als Bezahlmethode an. All das zeigt: Einkommensschwache Menschen und Haushalte spielen in der Konzeption des Deutschlandtickets wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. Dabei ist es wichtig, bei Maßnahmen für die Verkehrswende alle Menschen unserer Gesellschaft mit einzubeziehen. Hier wurde eine wichtige Chance verpasst.
Was sagen Sie zum neuen Deutschlandticket? Werden Sie es nutzen oder sind 49 Euro doch noch zu teuer? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren bei WDR.de oder auf Social Media.
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Kommentare zum Thema
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)
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Sie haben einen Studenten getroffen, der von Stuttgart bis Warnemünde 16 Stunden per Bahn und Deutschlandticket fuhr. Ein Schweizer war's sicher Ned. Der wäre von Stuttgart nach Basel und dann mit dem Flixtrain via Berlin und Stechlinsee in 14 Stunden in Rostock Hafen gewesen und dann ist's noch ein Katzensprung. Heißt nicht umsonst "Deutschlandticket", gilt nur im deutschen Raum. Und so darf Bahnfahrerin auch weiterhin hier ihre Odyssee auf nationalen Bummelzügen bestreiten, wenn die ausländischen Zige schon längst abgefahrn.