Wir treffen uns bereits am Nachmittag bei einem Freund in seiner Kölner Wohnung, um uns auf den Silvester-Abend vorzubereiten. Ein bisschen Musik hören, Salat schneiden, kochen, Brote belegen und ein Glas Wein dazu. Für unsere Freundin Anna und ihre Söhne Vasyl (12) und Michailo (9) - die Namen sind zu ihrem Schutz geändert - ist es das erste Silvester in Deutschland. Es wird eine Feier mit Tränen - aus Angst und Kummer, aber auch vor Freude.
"Wird in der Ukraine geböllert?"
"Wie ist es in der Ukraine an Silvester? Wird dort geböllert?", fragt einer der Gäste während der Vorbereitungen. "Ja!", antwortet Anna und lacht ein wenig bitter. "Dieses Jahr wird es von Russland spendiert."
Kurz danach werden Annas Augen feucht, sie dreht sich weg und greift zu ihrem Handy. Den Kontakt zu ihrer Familie im Donbass versucht sie ständig aufrecht zu halten - meist über kleinere Videobotschaften, denn für ein Livegespräch ist die Verbindung oft nicht gut genug.
Anna musste schon zweimal fliehen
Anna ist Anfang März mit ihren zwei Söhnen nach Deutschland geflohen. Es ist nicht ihre erste Flucht gewesen. Bereits 2015 war sie aus der Region um Donezk im Donbass nach Kiew geflohen. Ihre Eltern und Schwestern sind in der Donbass-Region geblieben.
In der Ukraine, in Russland und auch in vielen anderen postsowjetischen Staaten wird der Silvester-Abend wie in Deutschland Weihnachten gefeiert. Man trifft sich mit der Familie, isst und trinkt, es gibt Geschenke.
Knallerbsen und Drehkreisel
Für die ukrainischen Kinder haben wir zur Beschäftigung am Silvester-Abend zusammengelegt und ihnen Spielzeug gekauft. Mein Sohn freut sich mehr auf das Böllern und kann es kaum erwarten, die Knallerbsen und Drehkreisel auszupacken.
Gegen sieben gehen wir dann raus, um mit den Jungs ein paar dieser harmlosen Böller loszulassen. Ich passe auf, dass die Kinder an meiner Seite bleiben, damit alle sicher sind, denn auf den Straßen wird schon viel geknallt.
Plötzlich heult eine Silvester-Rakete
Die Kinder haben großen Spaß und freuen sich über jeden angezündeten Böller - bis auf einmal eine Rakete mit einem lauten Heulen losgeht.
Vasyl, der neben mir steht, zuckt plötzlich zusammen. Sein Gesichtsausdruck verändert sich. Dann sagt er mir auf Russisch:
Mit einem Mal weicht die Freude einer tief sitzenden Angst. Und ich spüre, wie die traumatischen Ereignisse im Kriegsgebiet bei diesem Kind plötzlich wieder präsent sind.
Auch Anna zuckt zusammen
Als später am Abend immer mehr Knaller und Raketen gezündet werden, fühlt sich auch Vasyls Mutter unwohl. Nach einer heftigen Explosion eines Böllers zuckt Anna ebenfalls zusammen.
Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie muss an ihre Schwestern denken, bei denen ähnliche Geräusche und Explosionen den Tod bedeuten können.
Ich nehme sie in den Arm und drücke sie. Sie wischt ihre Tränen weg und sagt leise, dass sie die Geräuschkulisse an ihre Flucht erinnere.
Auch Tränen der Freude
Es sollen nicht die letzten Tränen an diesem Abend bleiben - zum Glück, denn zu den traumatischen Erinnerungen kommen auch Freudentränen hinzu.
Wir erzählen Anna, dass wir zusammengelegt haben und ein neues Bett für den kleinen Michailo kaufen wollen. Bisher schläft er auf einer kleinen Matratze. Anna ist gerührt:
Zurück in die Ukraine will die Familie nicht mehr - egal, wie sich die Situation dort entwickelt. Anna will sich hier in Deutschland ein neues Leben aufbauen und hat bereits viel geschafft. Die Kinder gehen zur Schule, sind im Fußballverein, alle lernen fleißig Deutsch und haben gerade eine eigene Wohnung bezogen.
Gute Vorsätze für das neue Jahr
Wir erzählen uns unsere Vorsätze für das neue Jahr - eine deutsche Tradition, die Anna noch gar nicht kennt. Sie macht mit und nimmt sich vor, so schnell wie möglich Arbeit zu finden - sie ist gelernte Möbelrestauratorin - und ihr Deutsch zu verbessern, um hier in Deutschland noch mehr anzukommen.
In der Ukraine gibt es zu Silvester die Tradition, einen Wunsch auf einen Zettel zu schreiben und ihn um Mitternacht zu verbrennen. Diesmal verbrennen wir keine Zettel. Aber wir prosten uns oft zu - und stoßen auf den Frieden an.