Mehr als 50.000 Tote und über 300.000 zerstörte oder beschädigte Gebäude - das sind die nackten Zahlen, die zwei Monate nach dem verheerenden Erdbeben allein in der Türkei geblieben sind. Doch dahinter verbergen sich ganz viele traurige Schicksale. Während der Fokus der Weltöffentlichkeit weitergezogen ist, kämpfen die Menschen vor Ort immer noch mit den Folgen der Katastrophe.
Keine offiziellen Vermissten
Ein Zeltlager in Kahramanmaras
Da ist der 36 Jahre alte Salman. Er hat das Erdbeben überlebt und schläft derzeit mit seiner Frau und seinen Eltern in einem Zelt. Als Anfang Februar in Kahramanmaras die Erde bebte, lebte dort seine ältere Schwester zusammen mit ihrer Familie. Salman machte sich auf den Weg, um nach ihnen zu schauen. "Als wir hier angekommen sind, haben wir zuerst die Nachbarhäuser gesehen. Die standen noch. Wir waren schon erleichtert und haben uns gesagt: Ich glaube, hier ist nichts. Aber dann haben wir plötzlich gesehen, dass das Gebäude hier komplett eingestürzt war."
Knapp zwei Wochen später finden sie seine Schwester, ihren Mann und die beiden Töchter tot in den Trümmern. Nur Mehmet nicht, den 13 Jahre alten Sohn. Tage später erklären die Rettungskräfte, sie seien fertig. Salman will bei der Polizei eine Vermisstenanzeige machen. Doch dort wird ihnen gesagt, dass es so etwas nicht gebe, weil im Moment jeder vermisst werde. Und auch jetzt führen die Behörden noch immer keine offizielle Vermisstenkartei.
Bei Salman sorgt das für Ärger. "Da verschwinden so viele Kinder. Sie sind nicht in den Trümmern. Nicht im Krankenhaus. Wo sind sie? Wer ist verantwortlich? Keiner!" Bei ihm und vielen anderen richtet sich die Wut gegen die türkische Regierung. Die habe beim Krisenmanagement versagt - so der Tenor. In Kahramanmaras führt die oppositionelle CHP eine eigene Liste mit Vermissten und will verhindern, dass es bei den Wahlen im Mai zu Manipulationen kommt, wenn Tote plötzlich wählen gehen.
Container dank Unterstützung aus Europa
Haydar Acar vor seinem zerstörten Haus
Auch Haydar Acar kämpft weiterhin mit den Folgen des Erdbebens. Der 66-Jährige hat jahrzehntelang in einem Kölner Asphaltwerk gearbeitet und sich dann als Rentner in seinem Heimatdorf Küpelikiz ein Haus als Altersvorsorge gebaut. Doch das muss nun abgerissen werden. In dem Dorf gibt es kein Wasser und keinen Strom. Der Staat hilft nicht. "Das Leben ist hier im Moment nicht so gut. Hier kann man nicht richtig leben."
Inzwischen wurden in Eigenregie Container besorgt, in denen nun gelebt wird. "Unser Dorf hat Glück gehabt: Jede Familie hatte in Deutschland einen Arbeiter oder in Frankreich. Die schicken Geld rüber oder haben Container gekauft." In anderen Dörfern sehe das anders aus. Denn: Die Container seien teuer im Moment, einer koste 4.000 Euro mit Lieferung.
Sorge in NRW um Verwandte in der Heimat
Auch in der türkischen Community in NRW ist das Erdbeben zwei Monate später noch sehr präsent. Da ist der 23 Jahre alte Ulas aus Köln. Er hat zwei Tanten und zwei Cousins verloren. "Was mich dabei am meisten getroffen hat, ist, dass ich immer noch nicht vor Ort sein konnte bei meiner Familie", sagt er. Denn Ulas hat die doppelte Staatsbürgerschaft und hat seinen Militärdienst in der Türkei noch nicht gemacht. "Deshalb versuche ich gerade mit der Botschaft zu klären, dass ich endlich mal vor Ort sein kann."
Abgesehen von der Trauer um die Toten macht sich der 23-Jährige auch Gedanken um seine Verwandten. Sie haben ihre Jobs und Häuser verloren. "Jetzt gerade kommt man vielleicht noch unter bei anderen Verwandten. Aber die große Angst um die eigene Existenz ist permanent präsent."
Visa für Opfer von Erdbeben
Andere schaffen es, dass ihre Angehörigen nach NRW kommen können. Möglich gemacht hat das die Bundesregierung. So bekommen Erdbebenopfer unter bestimmten Voraussetzungen für 90 Tage ein Visum, um bei Verwandten unterzukommen. Bis Ende März wurden mehr als 7.500 Visa ausgestellt.
Emine Ülkücü holt ihre Familie am Flughafen ab
Dadurch hat auch Emine Ülkücü ihre Familie aus der Türkei aufgenommen. Vor wenigen Tagen kamen sie am Flughafen Düsseldorf an. "Meine Tante ist da, die sitzt im Rollstuhl. Mein Schwager, die Kinder von meinem Cousin, die Ehefrau und die Enkelin sind da. Wir sind sehr glücklich." Drei Monate können sie sich jetzt bei der Familie in Essen ausruhen, bis sie wieder zurück in die Türkei müssen: "Sie sind nicht mehr in der Kälte, nicht mehr in einem Zelt. Sie werden mit uns zusammen wohnen, essen, trinken, alles. Wir sind sehr glücklich."
Und auch in der Türkei gibt es sie, die guten Nachrichten: Nach 54 Tagen konnte kürzlich eine Mutter ihr Baby wieder in die Arme schließen. Beide konnten aus Trümmern gerettet werden, doch danach wurden sie getrennt. Erst ein DNA-Test sorgte für das Wiedersehen.