Antisemitismus-Skandal um Hubert Aiwanger: Ist die Sache abgeschlossen?

Aktuelle Stunde 04.09.2023 40:55 Min. UT Verfügbar bis 04.09.2025 WDR Von Alexa Schulz

"Er ist kein Opfer, er ist Täter" – Deutliche Kritik an Aiwanger

Stand: 04.09.2023, 21:13 Uhr

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat entschieden, dass sein Vize Hubert Aiwanger im Amt bleiben darf – entgegen aller Kritik an dessen Verhalten. Die Reaktionen darauf sind recht deutlich.

Die Entscheidung Söders löste viel Kritik aus. Der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, Wolfgang Benz, kritisierte Söders Vorgehen im RND als "verheerend". SPD-Vorsitzende Saskia Esken sprach in der Rheinischen Post von einem "fatalen Signal".

Vor allem Aiwangers heutiger Umgang mit der Affäre "zeigt für mich ganz klar, dass er ungeeignet ist, Verantwortung in einer Regierung zu übernehmen", so Esken. Aiwanger (Freie Wähler) hatte den Skandal rund um ein antisemitisches Flugblatt aus seiner Schulzeit unter anderem als "Schmutzkampagne" bezeichnet.

Mona Neubaur (Grüne) nennt Aiwangers Umgang mit Vorwürfen "bestürzend"

Mona Neubaur, NRW-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie (Foto aus dem Jahr 2022).

NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne)

Die stellvertretende NRW-Ministerpräsidentin Mona Neubaur nennt den Umgang Hubert Aiwangers mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen "bestürzend". Unabhängig von seiner konkreten Rolle bei der Erstellung und Verbreitung "dieses widerlichen, antisemitischen Flugblatts disqualifiziert er sich im Umgang mit dieser Affäre, und das nachhaltig", so die Grünen-Politikerin.

FDP-Chef Christian Lindner vermisst bei Aiwanger "eine klare Position, Reue und Entschuldigung“. NRW-Landeschef Höne erklärt: "Es irritiert mich, dass Ministerpräsident Markus Söder weiter an Aiwanger festhält. Damit hat er sich selbst in Geiselhaft begeben." Söder hafte politisch ab sofort persönlich dafür, wie sich die Antisemitismus-Affäre um seinen Vize Aiwanger weiterentwickele, meint Höne.

Michel Friedman: Aiwanger habe wichtige Fragen nicht beantwortet

Auch der Autor Michel Friedman stößt sich im WDR-Interview vor allem an Aiwangers Verhalten seitdem die Vorwürfe öffentlich wurden. "Der erwachsene Aiwanger ist der, der mir Sorgen macht", sagt er. Friedman ist CDU-Mitglied und war früher stellvertrender Vorsitzender des Zentralrats der Juden. Nach der "Friedman-Affäre" legte er seine öffentlichen Ämter nieder.

Friedman: "Aiwanger ist kein Opfer, er ist Täter"

WDR 5 Morgenecho - Interview 04.09.2023 08:16 Min. Verfügbar bis 03.09.2024 WDR 5


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Aiwanger habe entscheidende Fragen aus Söders Fragenkatalog nicht beantwortet, so Friedman. Aiwanger hatte bei mehreren Fragen angegeben, sich nicht erinnern zu können. Auf die Fragen nach anderen rechtsradikalen Aktivitäten, antwortete er ausweichend.

Politische Macht über demokratischen Anstand gestellt

Aiwanger hätte Schuld eingestehen und sich "ohne Wenn und Aber" entschuldigen müssen. Stattdessen stelle Aiwanger sich als Opfer dar. Wegen Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen, hätte "Herr Söder ihn entlassen müssen", sagt Friedman im WDR.

Auch der neue nordrhein-westfälische SPD-Chef Achim Post findet das Festhalten an Aiwanger falsch. "Markus Söder stellt politische Macht über demokratischen Anstand", sagte er dem WDR. Aiwanger sei bis heute eine ernsthafte Entschuldigung schuldig geblieben und mache sich selbst zum Opfer. "Indem Söder über dies alles hinwegsieht, legitimiert er die von Aiwanger versuchte Verkehrung der Verantwortung auch noch", so Post.

"Er ist kein Opfer, er ist Täter"

Michael Movchin vom Verbandes jüdischer Studierender in Bayern sieht das ähnlich. Auch er spricht im Radiosender Cosmo von WDR, Radio Bremen und RBB von einem "fatalen Signal", trotz aller Sonntagsreden werde nun versucht, den Vorfall unter den Teppich zu kehren. Aiwanger habe wochenlang versucht sich rauszuwinden und so Vertrauen verloren.

Publizist Michel Friedman spricht auf einem Podium.

Publizist Michel Friedman

Auch Friedman sagt deutlich: "Er ist kein Opfer, er ist Täter. Und das, was er uns die letzten zwei Wochen vorgespielt hat, war ein schlechtes Theater." Aiwanger sei aufgrund seines Umgangs mit der deutschen Erinnerungskultur "ungeeignet, sein Amt für die Zukunft weiter auszuüben".

Schaden am Grundkonsens deutscher Erinnerungskultur

Auch die nordrhein-westfälische Vize-Regierungschefin Neubaur kritisiert, dass Aiwanger "sich selbst als Opfer politischer und medialer Intrigen" inszeniere. Er finde weder angemessene Worte, noch trage er zu einer umfänglichen Aufklärung bei. "Man muss befürchten, dass diese Haltung langfristigen Schaden am Grundkonsens deutscher Erinnerungskultur anrichtet", so die Grünen-Politikerin.

Politikberater Hillje: politische Kulturverschiebung droht

Der Politikberater Johannes Hillje ist überzeugt: Entscheidender als das, was Aiwanger in der Vergangenheit getan habe, sei sein heutiger Umgang mit der Vergangenheit. "Und da, finde ich, droht so etwas wie eine politische Kulturverschiebung", meint Hillje, "wenn man mit mangelnder Einsicht, mangelnder Glaubwürdigkeit in einem Kontext von Antisemitismus dann doch mehr Zuspruch vielleicht von der Bevölkerung und auch bei einer Wahl erhält, als dass man damit bei einer Wahl verlieren könnte."

Mit seiner "Medienschelte" versuche Aiwanger außerdem, den Fokus von den Inhalten und den Vorwürfen in der Berichterstattung auf eine Diskreditierung der Berichterstatter zu lenken, so die Einschätzung von Kommunikationsexperte Hillje.

Zentralrat Deutscher Sinti und Roma: Entschuldigung nicht ernst gemeint

Auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kritisierte Aiwanger scharf. Dessen Entschuldigung sei nicht ernst gemeint. Stattdessen stelle sich Aiwanger als Opfer einer Kampagne dar; dies sei inakzeptabel und zynisch. Eine weitere Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen sei zu befürchten, so der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

NRW-AfD zu Causa Aiwanger: interne Angelegenheit der Freien Wähler

Die AfD in NRW hat zur Causa Aiwanger dagegen nichts zu sagen. Es handele sich um ein bayerisches Thema und eine interne Angelegenheit der Freien Wähler. Und weiter heißt es: "Grundsätzlich finden wir es befremdlich, wenn Lehrer nach knapp 40 Jahren probieren, ehemaligen Schülern zu schaden."

Unsere Quellen:

  • Interview mit Michel Friedman im WDR 5-Morgenecho am 4.9.2023
  • Rheinische Post
  • Aussagen von Johannes Hillje gegenüber dem WDR-Fernsehen
  • Äußerungen gegenüber dem RND
  • Statements aus der Landespolitik gegenüber dem WDR
  • Agenturmaterial der dpa
  • Cosmo-Interview mit Michael Movchin (Verband jüdischer Studierender in Bayern)

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