Ein Mann geht an einer gemalten US-Flagge vorbei

Suche nach einer noch nicht erzählten Geschichte

Abschied von 09/11/02

Stand: 12.09.2002, 09:45 Uhr

Wie geht der Journalist mit einem Thema um, bei dem es nichts mehr gibt, das nicht schon berichtet worden wäre? Ein Thema, bei dem kein Superlativ ausgespart, kein Horrorszenario verschwiegen wurde? Wo Worte störten, mussten irgendwann Zahlen herhalten: Zwei Ziffern, ein Schrägstrich - und plötzlich wusste jeder Bescheid: 9/11 ist zum Markenzeichen des Bösen in der Welt geworden. So wie 4711 für Kölnisch Wasser steht und 501 für knackige Jeans.

Von Herbert Bopp

Die Gefahr, sich vom journalistischen Overkill mitreißen zu lassen, lauert an jeder Ecke. Beispiel: Weil auch in New York die Themen nicht immer auf der Strasse liegen, hatte ich mir vorgenommen, in die Häuser zu gehen: Die Adresse "911 Avenue of the Americas" wollte ich aufsuchen und darüber schreiben - ein ausgefallenes 9/11-Thema, dachte ich. Reporterpech: Die Hausnummer 911 gibt es nicht mehr. Sie wurde zusammengelegt mit den Nummern 909 und 913.

Die BBC, erzählte mir ein befreundeter Kollege von der British Broadcasting Corporation, habe am 11. September jede einzelne Sendeminute live aus New York übertragen. Selbst das Londoner Wetter kam an diesem Tag direkt aus dem Big Apple in britische Wohnzimmer. Etwas Vergleichbares hat es in der BBC-Geschichte bislang nicht gegeben. Darf man eigentlich vom Overkill reden, wo doch Tausende starben?

Ein Hauch von Funkausstellung

Mützen, Poster, T-Shirts hängen zum Gedenken an die Oper in New York an einer Wand

Mützen, Poster, T-Shirts, Fähnchen hängen am Ground Zero

So überwältigend war die Medienpräsenz zum Jahrestag der Terrorakte, dass sich Besucher von Ground Zero vorkommen mussten wie auf der Funkausstellung: Satellitenschüsseln, Ü-Wagen, Kabellabyrinthe, Kameras, Mikrofone. Und Tausende von Journalisten. Dabei nahm die Suche nach dem ultimativen 9/11-Thema gelegentlich groteske Formen an.

"Dieser Mann hat Tränen in den Augen"

Am "Trauerzaun", ganz in der Nähe von Ground Zero, wurde ich in einen bizarren Dialog verwickelt. Reporterin: "Könnten Sie unseren Hörern bitte sagen, warum Sie weinen?" Ich: "Aber ich weine doch gar nicht, mir brennen nur die Augen." Reporterin: "Sie haben es gehört, meine Damen und Herren, auch diesem Mann kommen die Tränen, wenn er an den 11. September denkt." Sie hatte ihre Tränenstory und ich das Nachsehen. Feuchte Augen bekam ich zwar doch noch, aber erst viel später: Das Foto von dem kleinen Jungen, der noch immer seinen vermissten "daddy" sucht, ging ans Herz.

Abschied von New York - wieder einmal. Anders als vor einem Jahr, als Ground Zero noch ein dampfender Trümmerberg war, gehe ich diesmal leichteren Herzens. Und räume hiermit - wieder einmal - meinen Platz für die Katastrophen-Touristen. Die können sich freuen: Die Preise für amerikanische Flaggen sind nach 9/11/02 über Nacht drastisch gesunken. Und 9/11/03 ist erst in 364 Tagen.