Harley Davidson mit der kanadischen und amerikanischen Flagge

Zwischen Rummelplatz und Gedenkstätte

Wiedersehen am Ground Zero

Stand: 11.09.2002, 11:24 Uhr

In New York als Held gefeiert zu werden, ist gar nicht so schwer. Man nehme: Eine Harley Davidson mit Anhänger, schnalle darauf einen schwarzen Sarg mit einer lebensgroßen Bin-Laden-Puppe und fahre damit durch halb Amerika. In Manhattan angekommen, parke man sein Gefährt dann mit hochgeklapptem Sargdeckel unmittelbar vor Ground Zero. Und schon ist man auf der nach oben offenen New Yorker Heldenskala "a hero".

Von Herbert Bopp

Dem Rentner Mitch Mitchell wurden die höheren Weihen des Heldentums am Nachmittag des 10. September zuteil. Als er seine Maschine vor dem Gelände des ehemaligen World Trade Center parkte, rissen sich Horden von Reportern und Kamerateams um den schrulligen älteren Herrn und seine makabre Fracht. Bereitwillig erzählte er jedem, der es hören wollte, dass er aus South Carolina hoch gefahren sei, um am 11. September bei den Trauerfeierlichkeiten dabei sein zu können. Dass die Bin-Laden-Puppe einen Kopfschuss aufwies, schien in der Menge der Schaulustigen besonders gut anzukommen. Es wurde gejohlt und geklatscht. Keine Frage: Mister Mitchell war sichtlich gerührt über sein neues Heldendasein.

Mehr Rummelplatz als Gedenkstätte

Bin-Laden-Puppe im Sarg

Mit Bin-Laden-Puppe quer durchs Land

Kurz vor den offiziellen Trauerfeierlichkeiten glich Ground Zero eher einem Rummelplatz als einer Gedenkstätte für mehr als 2800 Tote. Es wurde viel gesungen, geredet und sogar geklatscht. Hin und wieder wurde auch gepredigt oder laut gebetet. Geklatscht wurde, wenn irgendjemand in der Menge wieder einmal die Verdienste der New Yorker Feuerwehr hervorhob. "Our heroes" sind nicht vergessen. Aber es wurde auch geweint. Eine Bretterwand rund um die St. Paul's Church, vollgepackt mit Tausenden von Fotos, Briefen, Widmungen und Memorabilien, erinnert an die Opfer der WTC-Katastrophe.

Die Katastrophentouristen kommen in Massen

Dort, wo die beiden Türme des World Trade Center standen, klafft jetzt ein gut 60 Meter tiefes Loch. Die Katastrophentouristen kommen in Massen: Wie einst am "Checkpoint Charly", von wo aus die Berliner Mauer besichtigt werden konnte, führt entlang der etwa fünf Hektar grossen WTC-Höhle ein dreieinhalb Meter breiter Fussweg am Maschendrahtzaun vorbei. So stark war der Andrang am Tag vor der Gedenkfeier, dass Polizisten den Zuschauerstrom vorübergehend stoppen mussten.

Wirtschaftliche Trauerarbeit

Ein gemaltes Bild der Zwillingstürme in den den Farben der US-Flagge

Kitsch und Patriotismus

Betrauert werden in New York noch immer in erster Linie die Opfer der Katastrophe. Aber längst wird auch unverhohlen wirtschaftliche Trauerarbeit geleistet. 125.000 Menschen sollen als Folge des 11. September ihre Arbeitsplätze verloren haben. Hunderte von Geschäften in Lower Manhattan mussten nach den Terrorattacken Konkurs anmelden. Am schlimmsten betroffen waren kleine Händler, oft Familienunternehmen. Menschen eben, die das Geld am nötigsten brauchen. Die, die der Wirtschaftsflaute nach 9/11 die Stirn gezeigt haben, berichten von bis zu 50-prozentigen Umsatzeinbussen. Unter den Großen scheint der Discount-Designerladen "Century 21" einer der wenigen zu sein, denen die WTC-Katastrophe nichts anhaben konnte.

Auch der Immobilienmarkt ist seit der WTC-Katastrophe aus dem Ruder gelaufen. Rund 30 Prozent der Büroflächen im Geschäftszentrum von Lower Manhattan sind durch den Turm-Terror verloren gegangen. Einen Wiederaufbau des World Trade Center wird es zwar geben. An das Immobilien-Angebot von früher anzuknüpfen, ist jedoch wegen der räumlichen Restriktionen eher unwahrscheinlich.

Keine Achterbahn der Gefühle mehr

Ein 60 Meter tiefes Loch am Ground Zero in New York

Ground Zero - ein 60 Meter tiefes Loch

Wiedersehen mit Ground Zero - bei mir hat es nicht diese Achterbahn der Gefühle ausgelöst, die mir lange Zeit nach dem ersten Besuch noch zu schaffen machte. Nur einmal waren sie wieder da, die feuchten Augen: "Please find my Daddy!", steht noch immer unter dem Foto eines braungebrannten Mannes, der ein Kind im Arm hat. Das Kind habe ich kennengelernt. Als ich kurz nach dem 11. September aus dem New Yorker Vermisstenzentrum berichtete, kam dieser kleine Junge mit einer herzzerreißenden Bitte auf mich zu. Seine Worte werden mich ein Leben lang begleiten: "Mister", flehte mich der Bub damals an, "mit Ihrem Presseausweis kommen Sie doch überall rein". Seine Bitte: Ich sollte den Trümmerhaufen durchsuchen, um nach seinem Daddy zu suchen.