Kerzen brennen in New york

"Gott ist nicht der Weihnachtsmann"

Tag 4: Ein deutscher Pastor handelt

Stand: 17.09.2001, 14:49 Uhr

Frau Hertel aus New York hat ihren Vetter im Fahrstuhl des World Trade Centers verloren. Er hat dort als Elektriker gearbeitet. Der junge Mann konnte sich noch per Handy bei seinen Lieben melden. Dann brach die Verbindung ab. Jetzt braucht Frau Hertel Trost. Den findet sie bei Sönke Schmidt-Lange in der 22. Straße. Dort, wo der Stadtteil Chelsea am schrägsten ist, befindet sich die mit 104 Jahren älteste Deutsche Kirche von Manhattan.

Von Herbert Bopp

Sönke Schmidt-Lange ist Pastor der Deutschen Evangelisch-Lutherischen St. Pauls-Kirche. Sein Gotteshaus ist klein und wunderschön. Die Orgel ist soeben liebevoll renoviert worden. Deutsche Kirchen im Ausland müssen nicht wegen Überfüllung schließen. Offiziell zählt Pastor Schmidt-Lange 220 Kirchenmitglieder. Aber er verschickt 960 Gemeindebriefe. Macht rund 3.000 New Yorker Haushalte, die auf irgendeine Art und Weise mit der Deutschen Evangelisch-Lutherischen St. Pauls-Kirche zu tun haben.

Sonntag (16.09.01) war Trauertag in Manhattan. Auch in der Deutschen Kirche. 190 Männer, Frauen und Kinder sind zum Gottesdienst in die St. Pauls-Kirche gekommen. An einem gewöhnlichen Sonntagmorgen sind es 40, manchmal auch 70. Die wenigsten Deutschen, die zu Pastor Sönke kommen, leben in Manhattan. Viele von ihnen leben im New Yorker Nobelvorort White Plains. Zum Kirchgang legen sie bis zu 70 Kilometer zurück.

"Warum hast Du mich verlassen?"

Beim Trauergottesdienst für die Opfer des WTC-Desasters trug Sängerin Dunja Pechstein ein tröstliches Lied vor, das Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis geschrieben hatte. Pastor Schmidt-Lange zitierte den Psalm 22 aus dem Alten Testament: "Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Und auch den Psalm 121: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt meine Hilfe?" Diese Frage kann zurzeit auch Pastor Schmidt-Lange nicht hinreichend beantworten.

"Manche von uns sind fix und fertig"

"Die Leute haben Angst", sagt der Pastor, "und sie verspüren Wut." Manche seiner Kirchenmitglieder seien seit dem Terroranschlag vor einer Woche "fix und fertig". Sie reden nicht, sie singen nicht mit, sie schweigen nur. Und weinen. "Da kommt die Kirche ins Spiel", sagt Pastor Schmidt-Lange. "Ich muss den Verzweifelten klar machen, dass Gott nicht der Weihnachtsmann ist, der nur schöne Geschenke bringt."

Der Pastor, gebürtiger Münchener, und seine Frau Anne, belassen es nicht bei schönen Worten. Sie handeln auch. Unter dem Motto "Die Kirche ist immer auf" bieten die beiden den Angehörigen von deutschen Vermissten und Getöteten Hilfe an, wo immer es geht: Behördengänge, Übersetzungen. Auch Schlafquartiere und Essen. Die Frauengruppe der Gemeinde backt Kuchen. "Wir hatten geglaubt", sagt der gute Mensch von Chelsea, "die Deutschen würden uns nach der Katastrophe die Türen einrennen." Aber es kamen nur wenige. In den ersten beiden Nächten meldete sich überhaupt niemand. Ab dem dritten Tag tröpfelten die Hilfsangebote dann nach und nach herein.

Der Pastor auf Quartier-Suche

Ein junges Ehepaar aus Stuttgart hatte sich im "Millenium Hotel" einquartiert, gleich gegenüber dem World Trade Center. Das Hotel wurde aus Sicherheitsgründen geräumt. Die Gäste mussten über den Fluss nach New Jersey umziehen. Das war den Stuttgartern zu weit. Pastor Schmidt-Lange besorgte den Deutschen eine passende Unterkunft. Oder Sabine, eine Pfarrerstochter aus Vechta. Sie besuchte eine Sprachschule, gleich um die Ecke beim World Trade Center. Sabine verlor ihr Quartier. Pastor Schmidt-Lange besorgte ihr ein neues, lieh ihr Geld, ließ sie nach Deutschland telefonieren. Auch Andreas aus Thüringen suchte Hilfe: Quartier, Geld und Hilfe beim Rückflug. Die Rückflug-Hilfe war in den ersten Tagen nach dem Terroranschlag gar nicht möglich. Erst seit Sonntag ist der Luftraum über Nordamerika wieder halbwegs geöffnet. "Wer kann helfen?", steht auf dem Zettel, den das Pastoren-Paar in Chelsea an seine Kirchenmitglieder ausgeteilt hat. "Viele möchten helfen", sagt der Pastor. Nicht nur innerhalb seiner Kirchengemeinde. Hilfsangebote kommen auch aus Deutschland. Von einer Frauengruppe aus Datteln, zum Beispiel. Die hatte einen Flohmarkt für die New Yorker Feuerwehren veranstaltet. 5.000 Mark sind zusammengekommen. Den Erlös schickten sie zur Weiterleitung an die Deutsche Kirche von Manhattan