Danuta Harrich-Zandberg und Klaus Becker

Dokumentation begleitet Betroffene

Was aus den Contergan-Kindern wurde

Stand: 08.11.2007, 06:00 Uhr

50 Jahre nach Contergan: Aus den Kindern sind Erwachsene geworden. Sie müssen mit ihren Behinderungen leben, mit Folgeproblemen fertig werden. Ihre persönlichen kleinen und großen Dramen beleuchtet eine WDR-Dokumentation.

"Contergan - die Opfer, die Anwälte und die Firma" ist nach 2004 die zweite Dokumentation des Autorenpaares Danuta Harrich-Zanderg und Walter Harrich über die größte Arzneimittelkatastrophe der deutschen Geschichte. Sie begleiten Betroffene durch ihren Alltag: Klaus Becker, dessen Eltern immer zu ihm standen. Stefanie Ritzmann, die in einem Heim für geistig Behinderte aufwuchs. Birgit Edler, die Prothesen trägt, weil ihr Vater nicht ertragen kann, dass man auf sein Kind ohne Beine herabschaut.

WDR.de: Was ist der Schwerpunkt Ihres neuen Films?

Danuta Harrich-Zandberg: Die Dokumentation wird im Ersten direkt nach dem Zweiteiler "Eine einzige Tablette" ausgestrahlt. Sie soll die Zuschauer mit ihren Fragen abholen: Was ist aus den Kindern geworden? Wie konnten sie überleben? Und wie sieht ihr Leben heute aus? Selbst ich konnte mir das nicht richtig vorstellen. Und das, obwohl wir mit Betroffenen schon früher bei Dreharbeiten viele Tage miteinander verbracht hatten. Klaus Becker beispielsweise sieht mit seinen verkürzten Armen und den vier Fingern an einer Hand für mich so intakt und vollständig aus, dass ich nie auf die Idee kam zu fragen: Wie bewältigt er denn tatsächlich sein Leben, seinen Alltag?

WDR.de: Was haben Sie während der Dreharbeiten davon mitbekommen?

Harrich-Zandberg: Klaus Becker kann sich nicht alleine anziehen. Er kann sich nicht die Hose öffnen. Wie schrecklich muss dass für diesen wundervollen Mann sein, wenn er aus dem Haus geht und vorher stundenlang nichts trinkt, weil er weiß, er muss länger unterwegs sein. Denn dann hat er Angst, auf die Toilette gehen und jemand Fremden bitten zu müssen, ihm die Hose zu öffnen. Ich wusste das wirklich nicht.

Oder nehmen wir Stefanie Ritzmann, die in diversen Heimen aufwuchs. Sie konnte nichts alleine machen, noch nicht einmal die Unterhose wechseln. Es gab auch Männer, die sie betreut haben. Wer Dienst hat, ist halt da. Und es hat mich sehr berührt, als sie sagte: 'Da müssen Sie als Mensch, als Frau, als Mädchen einfach für einen Moment ihre Gefühle ausschalten.' Sie musste das alles wegstecken, nur weil sie auf Hilfe angewiesen war. Deshalb hatte Stefanie nur einen Wunsch, den sie als Erwachsene auch verwirklichte: selbstständig zu sein.

WDR.de: Klaus Becker, einer der Protagonisten, wollte immer einmal wissen, was der heutige Grünenthal-Inhaber Sebastian Wirtz fühlt, wenn er einen Betroffenen sieht. Hat er sich in Ihrer Dokumentation geäußert?

Harrich-Zandberg: Wir wussten, womit wir zu rechnen hatten: dass Grünenthal nicht mit uns sprechen wird, zumal die Firma gegen den WDR-Film "Eine einzige Tablette" geklagt hatte. Ich habe den Prozess am 10. Mai in Hamburg beobachtet und dabei auch kurz mit dem Justiziar von Grünenthal gesprochen. Seitdem verging bis Mitte Oktober keine Woche, in der ich nicht angerufen oder geschrieben und um ein Interview mit Sebastian Wirtz gebeten habe. Immer wieder hieß es freundlich, man bemühe sich. Ich kann das nicht verstehen. Das wäre eine so unglaubliche Chance gewesen. Ich habe Wirtz auch per Brief und Mail persönlich angeschrieben. Nach mehr als fünf Monaten kam eine schriftliche Stellungnahme, in der er unter anderem sein Bedauern über die Tragödie zum Ausdruck bringt. Bislang war unsere wiederholte Bitte an ihn, vor die Kamera zu treten, vergeblich.

WDR.de: Zu welchem Schluss kommen Sie nach all diesen Kontakten und Gesprächen mit Betroffenen und Grünenthal?

Harrich-Zandberg: Die drei Protagonisten unserer Dokumentation leben relativ gesehen auf der Sonnenseite. Sie haben von zu Hause alles bekommen, um ein relativ normales Leben führen zu können, und wenn es nur die finanzielle Absicherung ist. Aber wir haben auch viele Betroffene kennen gelernt, die von dieser Maximalrente in Höhe von 545 Euro leben müssen. Wie sich ein Mensch von diesem Geld gute Pflege leisten soll: das finde ich entwürdigend! Das ist sehr unfair. Ich kann nicht verstehen, dass eine Firma, die inzwischen zum internationalen Konzern geworden ist, nicht von sich aus noch einmal überdenkt, wie sie den Betroffenen ein wenig Menschenwürde zurückgeben kann.

WDR.de: Denken Sie, dass das Thema Contergan irgendwann einmal Vergangenheit sein wird?

Harrich-Zandberg: Wir haben uns jedenfalls vorgenommen, immer an diesem Thema dranzubleiben. Der Fall Contergan kann einfach nicht ad acta gelegt werden, schon allein weil der Wirkstoff Thalidomid immer noch verwendet wird, beispielsweise zur Behandlung von Krebskranken. Und die sind dankbar dafür, dass es das Medikament wieder in Europa gibt, weil es Leben verlängern und wieder lebenswerter machen kann.

Das Gespräch führte Stefanie Hallberg.