Sie lässt sich auspeitschen, brandmarken und vergewaltigen - "Die Geschichte der O" ist ein Roman, der in mehr als 20 Sprachen übersetzt und 1954 zum Welt-Bestseller wird. Unter dem Pseudonym Pauline Réage beschreibt eine Autorin darin die qualvolle Lust einer jungen Französin an ihrer sexuellen Unterwerfung. Lange wird gerätselt, ob das Buch möglicherweise nicht doch ein Mann verfasst hat. 1983 urteilt die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien: "Das hier skizzierte Frauenbild entspricht in keiner Weise dem sexuellen Empfinden von Frauen, es entspringt vielmehr der männlichen Fantasiewelt, auch wenn der Autor eine Frau sein soll."
Doch dann bestätigt die Literaturkritikerin Dominique Aury Gerüchte, die seit Ende der 1960er Jahre kursieren: In einem Interview mit dem US-Magazin "The New Yorker" outet sie sich 1994 als Autorin des Buches, das ein "Liebesbrief" an Jean Paulhan gewesen sei - ein Versuch, den 23 Jahre älteren Verleger, der gerade wieder geheiratet habe, weiter an sich zu binden. Da sie von Paulhans Schwäche für die Schriften Marquis de Sade gewusst habe, so Aury, habe sie sich von dessen Werk inspirieren lassen. "Ich war nicht mehr ganz jung, ich war nicht besonders hübsch, irgendetwas musste ich tun, um ihn für mich zu interessieren", sagt die damals Mittvierzigerin. Ihr Plan geht auf: Paulhan ist von ihr begeistert - und drängt auf eine Veröffentlichung des Manuskripts.
Keine Sado-Masochistin
Die im Roman geschilderten Gewaltexzesse basieren allerdings nicht auf eigenen Erlebnissen. "Selbstverständlich handelt es sich um Fantasien", sagt Aury-Biografin Angie David. "Dominique Aury war keine Sado-Masochistin und hat sich sicher nie an Sexorgien beteiligt." Die Autorin sei keine unterwürfige Frau gewesen, habe aber über bestimmte Vorstellungen verfügt. "Sie hat einmal gesagt, sie habe sich schon als Jugendliche immer vorgestellt, unter dem Haus ihrer Eltern sei ein Verließ, in dem Frauen - in Ketten gelegt - lebten."
Im realen Leben schützt Aury ihre Privatsphäre. "Sie hatte Angst, dass die Leute sich in ihr Leben einmischen", sagt Angie David. "Sie wollte als die kleine Madame der Literaturszene angesehen werden. Niemand sollte wissen, wer sie in Wirklichkeit war." Auch ihren wahren Namen verschleiert sie. Dominique Aury ist ebenso ein Pseudonym wie Pauline Réage. In Wirklichkeit heißt die Schriftstellerin Anne Desclos. Geboren wird sie am 23. September 1907 in Rochefort, einer Stadt in der Nähe von La Rochelle. Ihre frühe Kindheit verbringt sie bei ihrer Großmutter in der Bretagne. Später studiert sie Anglistik in Paris, wo sie mit der Literaturszene in Berührung kommt.
"Frauen handeln nach Gefühl"
Aury führt ein geheimnisvolles Doppelleben. Sie hat zahlreiche Affären mit Männern und mit Frauen. "Frauen handeln nach ihrem Gefühl - eher als nach Prinzipien", sagt sie 1960 in einem Radiointerview. "Sie sind sensibler, aber auch vernünftiger." Frauen seien bereit, "sich der Realität zu beugen und Kompromisse einzugehen, statt Ja oder Nein zu sagen." Über ihr Werk spricht sie nicht. Dafür ab und zu über ihr Hobby: "Neben all den Manuskripten, die ich aus beruflichen Gründen lese, schmökere ich gerne - zu meinem eigenen Vergnügen - in englischen Krimis."
Erst als 86-Jährige gibt Aury das Geheimnis ihres Romans preis und bekennt: "Die Liebe macht uns zu Sklaven." Am 30. April 1998 stirbt sie im Alter von 90 Jahren in Corbeil-Essonnes in der Nähe von Paris.
Stand: 23.09.2012
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