An einem schwülen Sommertag im Juli 1862 unternimmt Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll mit Alice Liddell und ihren Schwestern in Oxford einen Bootsausflug. Einen "goldenen Nachmittag" wird Carroll, damals Mathematik-Dozent am dortigen Christ Church College, die Ausfahrt später nennen.
Da bitten die Kinder den Dozenten, eine seiner Geschichten zu erzählen: "drei gierige Gesichter, hungernd nach Neuigkeiten aus dem Zauberland". Carroll erzählt: von der kleinen Alice, die sich an einem Sommertag auf einer Wiese langweilt und einem weißen Kaninchen mit Taschenuhr ins Wunderland folgt. Es ist die absurde Traumwelt mit ihrer Grinsekatze, dem Hutmacher und dem Kartenspielkönigspaar, die den Erzähler später weltberühmt machen soll. Die komplette spätere Erfolgsgeschichte von "Alice im Wunderland" (1865) soll nach einer - weit späteren - Erinnerung Alice Liddells in der Erzählung jenes legendären Sommertags enthalten gewesen sein. Ob dies stimmt, ist eher unwahrscheinlich. Fest steht jedoch, dass die Alice des Wunderlands deutlich die Züge des echten jungen Mädchens trägt.
Carroll lernt die damals vierjährige Alice Liddell 1856 kennen, als er vom Dekanatsrasen aus die Kathedrale fotografiert. Da ist er ein verschrobener, stotternder Sonderling, der sich in der Welt der Erwachsenen unwohl fühlt und erst im Beisein junger Mädchen zum phantasievollen Unterhalter wird. Viele junge Freundinnen hat Carroll Zeit seines Lebens: Freundinnen, denen er rätselvolle Briefe schreibt und die er auf seinen später weltberühmten Fotografien festhält. Alice ist ihm die liebste. "Mein Traumkind" wird er sie nennen und immer wieder ins Traumreich seiner Geschichten entführen.
Anfangs tolerieren die Eltern die Beziehung, Carroll ist ein gerngesehener Gast im Hause. Aus unbekannten Gründen kommt es 1863 zum Bruch mit der Familie; die Mutter verbrennt alle Briefe Carrolls an Alice. Im Dezember 1864 übergibt dieser seiner einstigen Freundin das Manuskript von "Alice im Wunderland" als Weihnachtsgeschenk. Die Liddells zeigen das Buch befreundeten Schriftstellern. So kommt es, dass der Klassiker der surrealen Kinderbuchliteratur der Nachwelt erhalten bleibt.
Die Freundschaft zwischen Carroll und Alice allerdings kommt nicht mehr in die Gänge. Mit der Romanfortsetzung "Alice hinter den Spiegeln" (1871) hat die einstige Muse des Autors nicht mehr viel zu tun. Die entwickelt sich zu einer durchschnittlichen und offenbar eher langweiligen jungen Frau. "Es ist nicht leicht, im Geist das neue Gesicht mit der alten Erinnerung zu verbinden – den Fremden mit der einst so inniglich vertrauten und geliebten Alice, die mir als bezauberndes kleines siebenjähriges Mädchen in Erinnerung geblieben ist", schreibt Carroll nach einem Wiedersehen.
Mit 28 Jahren heiratet Alice Liddell einen reichen Nichtsnutz, mit dem sie drei Kinder bekommt. Als sie 1926 nach dem Tod ihres Mannes in Geldschwierigkeiten gerät, lässt sie das Manuskript zu "Alice im Wunderland" bei Sotheby’s für 15.400 Pfund versteigern. 1932 erhält sie in New York für ihre Musentätigkeit die Ehrendoktorwürde. Alice Liddell stirbt am 16. November 1934 in Hampshire.
Stand: 16.11.09