Stichtag

27. Januar 2010 - Vor 125 Jahren: Patent auf nahtlose Stahlrohre für Mannesmann

Rohrleitungen nutzt der Mensch fast seit Anbeginn der Zivilisation. Anfangs werden sie aus Holz, Bambus oder Ton gefertigt, später dann aus Metall. Mit Beginn des Dampfmaschinen-Zeitalters zeigen die verwendeten Rohre aus rund gebogenen Blechen einen gravierenden Nachteil: Ihre Schweißnähte sind den Belastungen des ständig steigenden Dampfdrucks nicht gewachsen, und immer wieder kommt es zu Druck-Explosionen mit tödlichen Folgen für die Maschinisten. Weltweit suchen Ingenieure im 19. Jahrhundert nach einer Lösung des Problems, das dem Fortschritt der industriellen Revolution im Wege steht. Doch als am 27. Januar 1885 ein gewisser Dr. Fritz Kögel beim Kaiserlichen Patentamt in Berlin ein Verfahren zur Herstellung nahtloser Rohre einreicht, erkennt selbst die Fachwelt nicht die Tragweite dieses bewusst schwer verständlich formulierten, aber wegweisenden Patentantrags. Niemand nimmt den Verfasser ernst, der gerade erst zum Doktor der Philosophie promovierte und von Technik nicht die blasseste Ahnung hat.

Und so erfährt wie beabsichtigt auch niemand, dass Kögel nur als Strohmann dient – zur Tarnung vorgeschickt von seinen Cousins Reinhard und Max Mannesmann. In Remscheid-Bliedinghausen führen der 1856 geborene Reinhard und sein ein Jahr jüngerer Bruder zusammen mit dem Vater eine seit 1776 bestehende Feilenfabrik. Das experimentierfreudige Bruderpaar forscht im familieneigenen Stahlwalzwerk nach einem Verfahren zur Herstellung nahtloser Rohre. Bei Produktionstests unter höchster Geheimhaltung mit einem neuen Stahl aus England stoßen sie durch Zufall auf die heiße Spur: Sie stellen fest, dass dieser Stahl, lässt man ihn durch zwei schräg stehende Walzen laufen, innen zunächst Risse und Löcher und dann einen stetig größer werdenden Hohlraum entwickelt. Sofort ist den Mannesmann-Brüdern die Bedeutung ihrer Beobachtung klar. Um die Idee zu dem von ihnen entdeckten Verfahren zu schützen, schicken Reinhard und Max ihren Vetter Fritz im Januar 1885 umgehend zum Patentamt. Erst anderthalb Jahre später, nach endlosen Versuchsreihen, gelingt ihnen in der Nacht zum 23. August 1886 tatsächlich die Herstellung des ersten schräg gewalzten, nahtlosen Rohres.

Nach Veröffentlichung ihrer Erfindung gewinnen Reinhard und Max Mannesmann schnell potente Investoren wie die Gebrüder Siemens für den Aufbau eines Röhrenwerks, das zur Keimzelle des späteren Weltkonzerns Mannesmann wird. Doch zunächst bleibt der wirtschaftliche Erfolg aus, denn die Wandstärke der produzierten Rohre ist viel zu dick. Die Mannesmanns experimentieren weiter und entwickeln das "Pilgerschrittverfahren", benannt nach der Echternacher Springprozession, bei der die Pilger in einem Tanz immer wieder vor und zurück springen: Ein Metalldorn tanzt in dem heißen, durch schräge Walzen gepressten Rohr so lange hin und her, bis die gewünschte Wandstärke erreicht ist. "Es ist die wahre Revolution des Walzwesens", schreibt 1887 der Erfinder Werner von Siemens. Diese Doppel-Erfindung, erst schräg walzen, dann Pilgerschritt, wird unter dem Namen "Mannesmann-Verfahren" weltberühmt und ist bis heute das Standardverfahren zur Herstellung nahtloser Rohre.

Stand: 27.01.10