258 Sportler aus 16 Ländern marschieren durch den französischen Kurort Chamonix. Einige tragen lange Holz-Skier auf ihren Schultern, andere lassen ihre Schlittschuhe vom Nacken baumeln. Manche Männer tragen Tweed-Jacken und Schirmmützen. Aber die meisten kommen in Sportkleidung zur Eröffnungsfeier der "Internationalen Wintersportwoche" am 25. Januar 1924. Die Wintersportwoche steht unter dem Patronat des "Internationalen Olympischen Komitees" ( IOC ). Doch erst zwei Jahre später erklärt das IOC das Ereignis zu den ersten Olympischen Winterspielen. Der Grund: Innerhalb des IOC gibt es große Vorbehalte gegen die Einführung eigenständiger Winterspiele. Die skandinavischen Länder fürchten, dass dadurch ihre seit 1901 ausgetragenen Nordischen Spiele an Bedeutung verlieren. Zu Recht, wie sich später zeigt.
Die Wintersportwoche in Chamonix ist keine Massenveranstaltung. Zur Eröffnung erscheinen nur knapp 300 Zuschauer. Rundfunkübertragungen von den Wettbewerben gibt es nicht. Die Athleten sind nicht professionell ausgerüstet. So tragen die Bobfahrer auf der Natureisbahn noch keine Helme, sondern Pudelmützen. Die Kurven sind nicht ausgebaut. Der Schweizer Edouard Scherrer ist der Schnellste, obwohl er seinen Bob aus Holz bei einer Tombola gewonnen hat und noch nie zuvor auf einer Bobbahn gefahren ist. Dennoch gibt es beim Bobfahren eine Sensation: eine elektronische Zeitmessung auf Hundertstel-Sekunden genau. "In der Leichtathletik gab es erst 1972 in München Hundertstel-Zeitmessung, im Bobfahren in Chamonix schon 1924", sagt Sporthistoriker Norbert Müller von der Universität Mainz.
Wie das Bobfahren sind in Chamonix auch Ski Nordisch, Eishockey, Eisschnelllauf und Curling reine Männersportarten. Nur beim Eiskunstlaufen nehmen auch einige Frauen teil. Darunter Sonja Henie aus Norwegen, die 1928, 1932 und 1936 Olympiasiegerin wird. Weil Sonja bei ihrer Kür erst elf Jahre alt ist, darf sie einen kurzen Rock tragen. "Die anderen Frauen hatten Röcke bis an die Waden", sagt der Kölner Sporthistoriker Karl Lennarz. Für die Musik an der Eisbahn sorgt eine Militärkapelle.Beim Skispringen werden - aus heutiger Sicht - bescheidene Weiten erreicht: Der norwegische Sieger, Jacob Tullin Thams, kommt auf 49 Meter - in Schlabberhose und mit nach vorn gestreckten Armen. Die erfolgreichste Nation heißt 1924 Norwegen, der erfolgreichste Sportler ist der Finne Arnold Clas Robert Thunberg, der drei Mal im Eisschnelllauf gewinnt. Deutschland ist in Chamonix noch nicht dabei. Das IOC hat die Kriegstreiber-Nation des Ersten Weltkrieges ausgeschlossen. Die Wintersportwoche am Fuß des Mont Blanc überzeugt auch die Skeptiker im IOC - allen voran den Präsidenten, Baron Pierre de Coubertin. In seinen "Olympischen Erinnerungen" schreibt er: "Dieses schneeumrahmte Vorspiel war in jeder Hinsicht gelungen." Die Vorurteile der Skandinavier seien durch deren Siege beschwichtigt worden. 1925 beschließt das IOC, die Sportler ab 1928 alle vier Jahre auf Eis und Schnee um Medaillen kämpfen zu lassen.
Stand: 25.01.09