Badghis, Afghanistan, 2. Juni 2004: Mitarbeiter der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" sind mit einem Jeep unterwegs durch unwegsames und dünn besiedeltes Gelände. Sie wollen in der Nordwest-Provinz des Landes eine Klinik aufbauen. Für 14.45 Uhr haben sie mit Kollegen vereinbart, sich per Funk von unterwegs zu melden. Der verabredete Kontakt kommt nicht zustande. Am Abend wird der zerschossene Jeep gefunden. Fünf Mitarbeiter sind tot: eine belgische Projektkoordinatorin, ein niederländischer Logistiker, ein norwegischer Arzt und zwei Afghanen, die als Übersetzer und Fahrer mit der Gruppe unterwegs waren. Drei weitere afghanische Begleiter konnten unverletzt fliehen.
Am Tag nach dem bis dahin schwersten Anschlag auf ausländische Hilfsorganisationen in Afghanistan seit dem Einmarsch der US-Truppen Ende 2001 stellt "Ärzte ohne Grenzen" die Arbeit in dem Land vorerst ein. Der afghanische Präsident Hamid Karzai verspricht Aufklärung: "Wir hoffen, die Schuldigen zu finden." Doch das geschieht nicht. Am 28. Juli 2004 gibt "Ärzte ohne Grenzen" bekannt, dass sich die Organisation aus Sorge um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter nach 24 Jahren ganz aus Afghanistan zurückzieht. Knapp zwei Monate nach dem Anschlag wird damit aus dem vorläufigen Stopp der Arbeit ein endgültiger Rückzug. In einer Presseerklärung von "Ärzte ohne Grenzen" heißt es, die Regierung in Kabul habe "glaubwürdige Beweismittel erhalten", dass lokale afghanische Machthaber hinter dem Anschlag stünden. Dennoch seien die Verantwortlichen nicht verhaftet worden. "Dies zeigt, dass die afghanische Regierung ihrer Verantwortung nicht nachkommt, die Sicherheit von humanitären Helfern im Land zu gewährleisten."
Zudem kritisiert "Ärzte ohne Grenzen" die Taliban. Ein Sprecher der Radikal-Islamisten habe die Verantwortung für den Anschlag übernommen und erklärt, die Helfer arbeiteten im amerikanischen Interesse und müssten deshalb mit weiteren Angriffen rechnen. "Ärzte ohne Grenzen" weist das als "falsch und ungerechtfertigt" zurück: "Eines der wichtigsten Prinzipien der Organisation war stets die klare Trennung der humanitären Hilfe von politischen Interessen."Gleichzeitig wirft Marine Buissonnière, Generalsekretärin von "Ärzte ohne Grenzen", der internationalen Schutztruppe vor, die humanitäre Hilfe für eigene Zwecke zu benutzen: "Die US-geführte Koalition in Afghanistan will sich dadurch Unterstützung für ihre militärischen und politischen Ziele verschaffen." Damit werde humanitäre Hilfe von den Afghanen nicht mehr als unparteilich und neutral angesehen. Bereits vor dem Anschlag hatte "Ärzte ohne Grenzen" am 12. Mai 2004 öffentlich gegen die Verteilung von Flugblättern der Militärkoalition protestiert. Darin sei die afghanische Bevölkerung aufgefordert worden, so "Ärzte ohne Grenzen", Informationen über die Taliban und die Terroristen von Al-Qaida weiterzugeben, wenn sie weiterhin humanitäre Hilfe erhalten wolle.
Stand: 02.06.09