Stichtag

01. August 2008 - Vor 10 Jahren: Deutsche Rechtschreibreform tritt in Kraft

Gerhard Augst hat immer einen kleinen Spickzettel in seinem Portmonee. Es ist eine Erinnerung an die schlimmsten Kritiken seines Lebenswerks. Ein "gemeingefährlicher Akt" sei das, woran der Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Siegen maßgeblich mitgearbeitet habe, schrieb etwa die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ein Wissenschaftskollege sprach von einem "menschenverachtenden Massenexperiment". Der deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger verglich die Arbeitsgruppe mit der Mafia. Und der Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nannte sie schlichtweg "Deppen".

Gemeint ist die "Kommission für Rechtschreibfragen" am Institut für Deutsche Sprache, der Augst seit 1976 angehört und seit 1990 vorsteht. Sie hat sich zusammengefunden, weil die Orthographie für Schüler zu schwer sein soll. Radikal will die Kommission durch den deutschen Sprachdschungel mähen. Eine gemäßigte Kleinschreibung, die laut Ansicht der Befürworter rund 40 Prozent aller Rechtschreibfehler beseitigen könnte, wird angedacht. "Kaiser" soll fortan mit "ei" geschrieben werden. Am 1. August 1998 tritt die reformierte Rechtschreibung in deutschen Schulen und Verwaltungen übergangsweise und parallel zu alten Schreibweisen in Kraft. Seit 2006 ist sie verbindlich. Schifffahrt wird seitdem mit drei "f" geschrieben. Das "ß" vor kurzen Vokalen ist dem "ss" gewichen.

Aus den hehren Plänen der "Kommission für Rechtschreibfragen" wird trotzdem nicht viel. Die Aufbruchstimmung und der Wunsch nach Chancengleichheit in den frühen siebziger Jahre hat in den Neunzigern längst einem eher traditionellen Sprachgefühl Platz gemacht. Große Tageszeitungen verweigern sich der Reform ebenso wie ein Großteil der Bildungselite. Allein 30 Urteilssprüche des Bundesverfassungsgerichts erzwingen die Gegner. "Total aggressiv" wird Augst die Diskussionen später nennen, als deren Folge die Rechtschreibreform immer stärker abgeschwächt wird. "Wenn Sie das ‚ss' fürs ‚ß' weglassen", sagt Augst, "dann muss man wirklich schon suchen, bis man etwas findet", das reformiert worden ist.

Stand: 01.08.08