Stichtag

26. Januar 2008 - Vor 5 Jahren: Annemarie Schimmel stirbt in Bonn

"Ich habe mich als Kind schon sehr früh für den Orient interessiert", erinnert sich Annemarie Schimmel, die wohl bekannteste Islamwissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts. In ihrer Kindheit und Jugend sei sie mit "nordischen Erzählungen" wie dem Nibelungenlied überfüttert worden. "Da war der Orient mir doch sehr viel sympathischer." Am 4. April 1922 im thüringischen Erfurt geboren, flieht sie vor dem aufkommenden Nationalsozialismus in die Welt einer anderen Kultur. Mit 15 Jahren beginnt Annemarie privat Arabisch zu lernen: "Nach der zweiten Woche war ich dem Arabischen und der islamischen Kultur vollkommen verfallen." Das hochbegabte und fleißige Mädchen macht mit 17 Jahren Abitur und promoviert mit 19 Jahren in Berlin - mitten im Zweiten Weltkrieg. Mit 23 Jahren habilitiert sie sich im Januar 1946 in Marburg.

Obwohl sie 1951 zusätzlich auch noch in Religionswissenschaft promoviert, erhält Annemarie Schimmel in Deutschland keine Stelle. An der Universität Bonn wird ihr gesagt: "Wenn Sie ein Mann wären, dann könnte aus Ihnen was werden in der Wissenschaft." Deshalb geht sie ins Ausland. Zunächst arbeitet sie in der Türkei - als erste nicht-muslimische Professorin an der Islamisch-Theologischen Fakultät in Ankara. Später lehrt sie 25 Jahre in den USA an der Universität Harvard, wo sie den gerade eingerichteten Lehrstuhl für Indo-muslimische Kultur übernimmt. Als Pionierin erschließt sie den indonesischen, indischen und pakistanischen Islam. Sie erforscht den gelebten Islam der Menschen vor Ort und arbeitet - anders als die meisten ihrer Kollegen - nicht ausschließlich vom Schreibtisch aus. Berühmt werden ihre Studien zur islamischen Mystik. Schimmels Übersetzungen aus dem Arabischen, Persischen, Türkischen, Urdu, Pashtu und Sindhi sind in Fachkreisen legendär. Sie schreibt über 100 Bücher, ihr Werk über die "Mystischen Dimensionen des Islam" wird zum Klassiker.

1995 wird die inzwischen 73 Jahre alte Wissenschaftlerin mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet: "als ein Zeichen für die Begegnung, nicht für die Konfrontation der Kulturen", wie es in der Begründung des Börsenvereins heißt. Doch ein Interview in den ARD-Tagesthemen löst einen Eklat aus. Schimmel distanziert sich zwar von islamistischem Terror und verurteilt Morddrohung gegen Salman Rushdie. Gleichzeitig bezeichnet sie aber dessen "Satanische Verse" als "eine sehr üble Art, Gefühle einer großen Menge von Gläubigen zu verletzen". Schimmel wird daraufhin vorgeworfen, sie verteidige die Fatwa, jenes islamische Rechtsgutachten von Ayatollah Khomeini, das Rushdies Roman als todeswürdiges Vergehen verurteilte. Sie relativiere die Menschenrechte und untergrabe das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Wissenschaftlerin beteuert, sie habe erklären, nicht entschuldigen wollen. Doch sie findet in der Tagespolitik nur schwer die richtigen Worte. "Sie dachte absolut nicht politisch", sagt ihr früherer Kollege und Freund Professor Stefan Wild, Islamwissenschaftler an der Uni Bonn. "Ihr Anliegen war die Vermittlung." Sie habe sich ein Leben lang als Brückenbauerin zwischen den Kulturen verstanden. Annemarie Schimmel stirbt am 26. Januar 2003 in Bonn.

Stand: 26.01.08