Stichtag

05. Mai 2007 - Vor 95 Jahren: Die "Prawda" erscheint zum ersten Mal

"Die Arbeiterklasse muss die Wahrheit kennen, (...) die Lehren des Lebens gemeinsam untersuchen und gemeinsam handeln", steht im Leitartikel der Erstausgabe der Zeitung "Prawda" ("Wahrheit"), die am 5. Mai 1912 in Petersburg erscheint. "Wir möchten (...), dass die Arbeiter (...) an der Leitung ihrer Zeitung aktiv mitarbeiten", schreibt Autor Josef Stalin. Lenin, der spätere Revolutionsführer, befindet sich zu dieser Zeit im Exil im damals österreichischen Krakau. Er verfasst dort regelmäßig Artikel für die "Prawda". Schon elf Jahre vor deren Gründung beschreibt er, was später zum Dogma staatssozialistischer Medienpolitik erhoben wird: "Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator."

Als die "Prawda" zum ersten Mal erscheint, herrscht Zar Nikolaus II. in Russland fast unumschränkt. Die Duma, das Parlament, ist praktisch ohne Einfluss. Arbeiter und Bauern leben in größter Armut. Nach dem Pressegesetz der zaristischen Regierung müssen die ersten drei Exemplare jeder gedruckten Ausgabe dem Zensor vorgelegt werden. Der findet häufig Artikel, die ihm nicht gefallen. Schon am 40. Erscheinungstag der "Prawda" wird das erste Verbot verhängt. Die Redaktion weiß sich zu helfen: Die nächste Ausgabe erscheint unter anderem Namen. In den fünf Jahren bis zur Oktoberrevolution ändert die "Prawda" acht Mal ihren Titel - unter anderem in "Arbeiterwahrheit", "Weg der Wahrheit" und "Wahrheit der Arbeit". Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges wird die Zeitung im August 1914 ganz verboten. Erst nach dem Sturz des Zaren kann sie wieder erscheinen. Mit der bolschewistischen Machtübernahme im November 1917 wandelt sich die Oppositionszeitung allmählich zum Zentralorgan der herrschenden Staatspartei.

Während die "Prawda" in den ersten Jahren nach der Revolution Diskussionen noch breiten Raum bietet, ändert sich das mit dem Aufstieg Stalins. Ab Ende 1929 gilt jedes in der "Prawda" gedruckte Wort als Richtlinie für die gesamte Sowjetpresse. Die "Prawda" wird zum Machtinstrument Stalins. Zwischen 1933 und 1939 wird sein Name in der Hälfte aller Leitartikel der "Prawda" erwähnt. Auch später ist die "Prawda" das Sprachrohr der jeweiligen Herrscher im Kreml. So entsteht eine Sprache, die nicht nur die "Prawda", sondern auch die anderen Zentralorgane zwischen Ostberlin und Moskau geprägt hat. Ungezählte Zeitungsspalten und Sendeminuten werden mit immer gleichen Phrasen gefüllt. Dazu gehören Floskeln wie "weitere Vervollkommnung", "vollinhaltliche Verwirklichung", "allseitige Stärkung" und "unzerstörbares Vertrauensverhältnis". Diese Form der Wahrheit hat die Perestroika nicht überlebt. Dennoch gibt es die "Prawda" weiterhin - sogar in doppelter Ausführung: als Tages- und als Wochenzeitung.

Stand: 05.05.07