Uhren, Schokolade, Berge - das saubere Bild der Postkarten-Schweiz bekommt Mitte der 90er Jahre braune Flecken. Zur Rolle des angeblich neutralen Alpenlandes während der Nazizeit tauchen in der internationalen Presse alte Akten und neue Vorwürfe auf: In der Schweiz deponierte Devisen würden den Erben von KZ-Opfern nicht ausgezahlt, da von den Ermordeten keine Sterbeurkunden existierten. Auch sei nach den rechtmäßigen Besitzern der Guthaben nie ernsthaft gesucht worden. Zudem lagere noch tonnenweise Gold der Nazis in der Schweizer Nationalbank. Als Regierungsmitglied resümiert Bundespräsident Arnold Koller im Schweizer Parlament: "Das Ansehen unseres Landes ist angeschlagen, weil weltweit der Eindruck erweckt wird, die Schweiz habe sich im Krieg bereichert, vom Krieg profitiert und ihre Banken hätten 50 Jahre lang versucht, Vermögen von Holocaust-Opfern zum eigenen Nutzen zurückzuhalten."
Nach dem Zweiten Weltkrieg befindet sich die Schweiz in einer komfortablen Lage. "Wir konnten uns alle Zerstörungen, all diese brutalen Gewaltanwendungen sparen. Nachher waren aber auch noch die Kassen voll", sagt der Schweizer Historiker Jacob Tanner. "Das führte dazu, dass es diese leicht überhebliche Sonderfall-Mentalität gab." Der Schweizer Mythos von Widerstand und Neutralität entsteht. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Zehntausende von Juden sind an der Schweizer Grenze abgewiesen und damit in den sicheren Tod geschickt worden. Auch das diskriminierende "J" im Pass haben die Schweizer erfunden. Wegen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Nazis betrachten die Siegermächte die Eidgenossen als Kriegsgewinnler. Mit dem "Abkommen von Washington" und einer Zahlung von 250 Millionen Schweizer Franken kauft sich die Schweiz 1946 von diesem Makel frei. Dafür lassen die Amerikaner Schweizer Konten entsperren und löschen die Schwarze Liste, auf der Firmen stehen, die mit den Nazis Geschäfte gemacht haben.
Doch 50 Jahre später wird die Schweiz von ihrer Vergangenheit eingeholt. Der Jüdische Weltkongress und das US-Außenministerium kritisieren das Verhalten der Schweizer Banken. Auch der Vorsitzende des Bankenausschusses des US-Senats, Alfonse D'Amato, fordert Aufklärung. Am 30. September 1996 beschließt das Schweizer Parlament, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, um die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Nazi-Deutschland zu analysieren. Während der Untersuchung kämpfen die Kinder der ermordeten Juden weiter um die Rückgabe der so genannten "nachrichtenlosen" Vermögen ihrer Eltern. Im Juni 1998 wird im Namen von fünf Holocaust-Opfern eine Sammelklage gegen die Schweizer Nationalbank eingereicht. Die Anwälte der Schweizer Großbanken einigen sich mit den Opfer-Anwälten auf eine pauschale Entschädigung von 1,25 Milliarden Dollar. Im März 2002 liefert die Historiker-Kommission ihren Bericht ab. Ihr Fazit: "Die Schweiz war jenes neutrale Land, das am längsten und am intensivsten die Kriegsanstrengungen Deutschlands unterstützte", sagt Kommissionsmitglied Tanner.
Stand: 30.09.06