Stichtag

22. September 2005 - Vor 115 Jahren: Erster deutscher Hebammentag

Im Großen Festsaal von "Kesslers Etablissement" in der Berliner Köpenickstraße versammeln sich am 22. September 1890 über 900 Frauen. Sie kommen aus dem gesamten Deutschen Reich und aus Österreich - und sie sind alle Hebammen. Zwei Tage lang diskutieren die Geburtshelferinnen die Entwicklung ihres Berufsstandes: Es geht um das Einkommen - denn sie verdienen oft nur einen Hungerlohn. Außerdem beraten die Frauen über eine bessere Ausbildung - denn einerseits machen die Ärzte ihnen ihre Fachkompetenz streitig, andererseits stehen zu viele Ungelernte ("Wärterinnen") gebärenden Frauen bei. Schließlich fordert die Versammlung eine gründliche Desinfektion in Kreissälen und Geburtszimmern. Denn seit Ignaz Semmelweiß 1846 Kontaktinfektionen als Ursache des gefährlichen Kindbettfiebers nachgewiesen hat, werden Hebammen häufig für alles verantwortlich gemacht, was nach der Geburt schief geht.

Hebammen gibt es schon seit der Frühgeschichte. Der Begriff stammt aus dem Altgermanischen: Die Frau, die das Neugeborene zuerst aufhebt und dem Vater reicht, genießt durchaus Ansehen. Sie ist zugleich eine Frau, die um die Geheimnisse der Sexualität weiß, die Mittel zur Fruchtbarkeit, aber auch zur Verhütung und zur Abtreibung kennt. Das bringt Hebammen im Mittelalter und noch bis ins 18. Jahrhundert hinein oft in den Ruf der Hexerei. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts organisieren sich die Hebammen in Vereinen: Sie gründen Kranken- und Sterbekassen zur sozialen Absicherung, und sie kämpfen um ihre Berufsehre. Seit ärztliche Prüfungsordnungen auch die Geburtshilfe vorsehen, werden Hebammen zu Helferinnen zweiter Klasse degradiert. Die zwei Tage in Berlin 1890 sind ein Signal gegen diese Entwicklung. Heute ist "Hebamme" ein moderner Ausbildungsberuf. In Deutschland wird er an 58 staatlich anerkannten Hebammenschulen gelehrt.


Stand: 22.09.05