Stichtag

01. November 2005 - Vor 250 Jahren: Das Erdbeben von Lissabon

Am Morgen des Allerheiligentages 1755 bricht das Unheil ohne jede Vorwarnung über Lissabon herein: Die Erde bebt. Drei Stöße zerstören 80 Prozent der Gebäude in der reichen Hafenstadt. "Die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien," heißt es in einem Bericht über die Katastrophe. Innerhalb von Minuten steht die Stadt in Flammen. Wer noch laufen kann, versucht sich ans Wasser zu retten, an den Tejo. Aber dort werden die Flüchtlinge von Flutwellen überrollt. "Nach drei Beben überschwemmte das Meer drei Mal das Land im Abstand von je einer Viertelstunde, im selben Rhythmus wie das Beben", erinnert sich ein Augenzeuge.Mindestens 30.000 Menschen sterben. Der Marques de Pombal, des Königs umstrittener Premierminister, organisiert sehr schnell eine Hilfsaktion: Er lässt Lebensmittel verteilen, verbietet den Händlern, überteuerte Waren anzubieten und setzt Soldaten gegen Plünderer ein. Pombal ist ein Aufklärer, absolutistisch und antiklerikal. Er begegnet der Naturgewalt mit Rationalität. An alle Kirchengemeinden lässt er Fragebogen verteilen, um die Wirkungsweise des Erdbebens genauer zu verstehen. "Wann begann das Beben und wie lange dauerte es? War der Stoß von einer Seite besonders stark? Fielen die Häuser eher von Norden nach Süden oder umgekehrt?" In den folgenden Jahren lässt er Lissabon neu aufbauen: nach einem quadratischen Straßenmuster und mit einsturzsichereren Häusern.

Durch Pombals Aufzeichnungen wissen wir heute, dass die Erde zunächst im Mittelmeer bebte, vermutlich in der Straße von Gibraltar. Das Beben hatte eine Stärke von 8,7 auf der Richterskala.
Die Katastrophe von Lissabon erzeugt auch ein geistiges Nachbeben. Sie ist ein Medienereignis: Überall in Europa erscheinen Berichte und illustrierte Nachrichtenblätter. Sie bringen den Optimismus vieler Aufklärer ins Wanken. Bislang gab der deutsche Philosoph Leibniz den Ton an. In seiner "Theodizee" - d.h. "Rechtfertigung Gottes" - bezeichnete er "diese Welt als die beste aller Welten". Man könne mit der Vernunft die Nützlichkeit der Natur nachvollziehen und so den guten, vernünftigen Gott erschließen. Das sei mit Lissabon vorbei, meinen Kritiker, allen voran der Franzose Voltaire. In seinem "Gedicht über die Katastrophe von Lissabon" schreibt er: "Sagt Ihr ... dies sei die Wirkung der ewigen Gesetze, die von einem freien und guten Gott notwendig diese Wahl fordern?"
Allerdings bleibt die Katastrophenwahrnehmung eingeschränkt. Während alle an Lissabon denken, werden die geschätzten 200.000 Opfer in Nordafrika kaum erwähnt.


Stand: 01.11.05