Das Foto entsteht am Ende des Zweiten Weltkriegs: Die US-Kriegsberichterstatterin Lee Miller wäscht sich in der Badewanne von Adolf Hitlers Münchner Wohnung. Ihre Armeeuniform liegt auf einem Stuhl, daneben stehen ihre Stiefel. Das Bild hat ihr Kollege Dave E. Scherman aufgenommen. Nur einen Tag zuvor hat Lee Miller im gerade befreiten KZ Dachau fotografiert: die als Duschräume getarnten Gaskammern, die im Lager gestapelte Kleidung, die nackten Toten.
Geboren wird Lee Miller am 23. April 1907 in Poughkeepsie, etwa 80 Meilen nördlich von New York. Ihre Eltern, ein Ingenieur und eine Hausfrau, leben hinter einer biederen Fassade heimlich Nonkonformität: Beide haben Affären. Als Siebenjährige wird Lee von einem Bekannten der Familie missbraucht. Über ihre Vergewaltigung wird sie ihr Leben lang nicht sprechen.
Vom Fotomodell zur Reporterin
1927 wird Lee Miller in New York auf der Straße von Condé Nast als Fotomodell entdeckt. Er verlegt unter anderem die Modezeitschrift "Vogue" und macht Lee zum Star. Zwei Jahre später reist sie nach Paris, dort will sie für US-Fotograf Man Ray arbeiten. Sie wird auch seine Geliebte und sein bevorzugtes Motiv. Später bewegt sie sich unter den Surrealisten: Georges Bataille, Michel Leiris, Paul Eluard, Max Ernst. Picasso porträtiert sie, Jean Cocteau dreht seinen ersten Film über sie.
1939 geht Lee nach England und lebt mit dem Maler Roland Penrose in einem alten Farmhaus. David E. Scherman, Fotograf für das Life-Magazin, lebt drei Jahre mit ihnen zusammen: "Die beiden waren sehr frei, sehr emanzipiert, ihrer Zeit weit voraus. Für Eifersucht keinen Platz." Als die Deutschen ab 1940 London bombardieren, fotografiert und schreibt Lee darüber für die "Vogue".
Tote Soldaten, KZ-Leichen, zerbombte Städte
1942 lässt Lee Miller sich von der US-Armee als Kriegsberichterstatterin akkreditieren - als eine der ersten Frauen in diesem Job. Sie ist bei der Landung in der Normandie, der Belagerung von St. Malo und der Befreiung von Paris dabei. Im Frühjahr 1945 fotografiert sie das zerstörte Köln, reist an die Mosel und in die Eifel. Sie erlebt im April 1945 das Zusammentreffen von GIs und Rotarmisten bei Torgau an der Elbe mit und berichtet in der "Vogue" darüber. Sie sieht nicht nur die KZ-Opfer in Dachau, sondern auch in Buchenwald.
Nach Kriegsende ist Lee Miller leer und ausgebrannt. Auf Drängen Schermans geht sie nach England und heiratet Penrose. 1947 wird Sohn Antony geboren. Bald hört sie auf zu fotografieren und kocht stattdessen raffinierte Menüs. Sie beginnt zu trinken, bekommt schwere Depressionen. Am 21. Juli 1977 stirbt Lee Miller mit 70 Jahren in Chiddingly an Krebs.
Glocke des Schweigens
Kurz nach dem Tod seiner Mutter entdeckt Tony Penrose auf dem Dachboden Schuhkartons mit Tausenden von Negativen und Abzügen. Er hatte keine Ahnung, dass sie Millionen Lesern vom Krieg in Europa berichtet hat. "Sie war so distanziert. Auch als Mutter ist sie mir eigentliche fern geblieben. Meinem Vater ging es ähnlich."
Kurz vor ihrem Tod hatte Lee Miller in ihrem Tagebuch notiert, was sie anders machen würde, wenn sie noch einmal von vorne beginnen könnte: "Vor allem würde ich versuchen, diese Glocke des Schweigens zu brechen, die sich über mir schließt, sobald es sich um Gefühle handelt."
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 21. Juli 2017 ebenfalls an Lee Miller. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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