"Wir können es uns nicht länger leisten, nur die vorhandenen Behinderten bestens zu betreuen. Wir können es uns nicht leisten im Interesse der kranken Menschen und auch nicht im Interesse der gesamten Gesellschaft." Das erklärt Anfang der 1970er Jahre der Eugeniker und Humangenetiker Georg Gerhard Wendt.
Als Experte für Erbkrankheiten wird er 1963 Leiter des neu eingerichteten Instituts für Humangenetik an der Universität Marburg. Am 10. August 1972 eröffnet Wendt die erste genetische Beratungsstelle der Bundesrepublik. In einem Modellversuch können sich dort Paare mit Kinderwunsch über mögliche genetische Gefahren bei einer Schwangerschaft informieren. "Tabu gebrochen" titelt daraufhin "Der Spiegel".
Modellprojekt für eine bessere Gesellschaft?
Lange hat Wendt zuvor in der Öffentlichkeit für sein Vorhaben gekämpft. Das Hauptziel der genetischen Beratung sei, so argumentiert der Humangenetik-Pionier, "dass die heute gezeugten und geborenen Kinder gesund sein sollten". Doch zu nah ist noch die Erinnerung an die unsäglichen Euthanasie-Programme der NS-Vergangenheit. Viele Experten verurteilen deshalb Wendts Pläne als getarnte Fortsetzung der Nazi-Ideologie vom "lebensunwerten Leben". Doch der 1921 geborene Mediziner, der selbst noch bei den Rassehygienikern der Nazi-Zeit studiert hat, findet auch Fürsprecher.
Sie verweisen auf die großen Fortschritte in der Humangenetik. "Man war der Meinung, mit Prävention eine bessere Gesellschaft schaffen zu können", sagt die Kölner Soziologie-Professorin Anne Waldschmidt. Damit überzeugt Wendt auch die Politik. "Humangenetische Gesichtspunkte müssen künftig bei der Geschlechtserziehung, Familienplanung und Eheberatung mehr Berücksichtigung finden", heißt es 1970 im Gesundheitsbericht der Bundesregierung. Ein aus heutiger Sicht naives Präventionsmodell, urteilt die Soziologin Waldschmidt.
Im Zweifel auf Kinder verzichten
Im Fernsehen wirbt Professor Wendt als lebensnaher Ratgeber für sein Marburger Modell, als gutmütiger Onkel Doktor, der bei der Familienplanung hilft. Geht es dann aber um die Entscheidung "Schwangerschaft: ja oder nein", erkennt Soziologin Waldschmidt jedoch den allwissenden Halbgott in Weiß, dessen Kernargumentation lautet: Besteht das Risiko, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen, sei es ganz im Interesse der künftigen Eltern, dieses Kind nicht zu bekommen oder eine Schwangerschaft gar nicht erst zu wagen.
Kostenlos und ohne Krankenschein können sich Ratsuchende in der Marburger Beratungsstelle informieren. Finanziert vom Gesundheitsministerium und der VW Stiftung verschickt Wendt Aufklärungsbroschüren an Ärzte und lässt Beratungsfaltblätter verteilen. Außerdem setzt er sich für Aufklärungsspots im Fernsehen ein und fordert, die Hausärzte in die Pflicht nehmen. Während der dreijährigen Laufzeit des Modellversuchs führen er und seine Mitarbeiter 2.173 Beratungen in Marburg durch.
Werdende Eltern unter Druck
In den 90er-Jahren gerät die humangenetische Beratung gegenüber der vorgeburtigen Diagnostik ins Hintertreffen. Heute ist die Pränataldiagnostik so weit fortgeschritten, dass sie mehr über das ungeborene Kind aussagen oder vermuten kann, als es sich die Humangenetiker vor 45 Jahren vorstellen konnten. Bei den meisten Schwangerschaften werden inzwischen Screenings durchgeführt, um möglichst jedes Risiko von vornherein auszuschließen.
Diesen Trend bewertet Anne Waldschmidt allerdings durchaus kritisch. Denn die moderne Diagnostik erzeugt Druck und fördert den Wunsch nach dem perfekten Kind: "Anforderungen, die wir heute an uns selbst stellen, führen dazu, dass entsprechende Erwartungen an den eigenen Nachwuchs gestellt werden." Allerdings gebe es nach wie vor werdende Eltern, die auf jede pränatale Diagnostik verzichten. Die sich bewusst dafür entscheiden, ihr Kind anzunehmen, wie es ist – mit allen Fehlern und Begabungen. "Doch diese bedingungslose Akzeptanz", warnt die Kölner Soziologin, "wird den Betroffenen immer schwerer gemacht, je mehr vorgeburtige Diagnostik zur Normalität wird."
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. August 2017 ebenfalls an die erste gentechnische Beratungsstelle. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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