Beinahe 60 Jahre lang hat Hansgünther Heyme der deutschen Theaterlandschaft seinen Stempel aufgedrückt. Wo er inszenierte oder als Schauspielchef wirkte, lagen Begeisterung und Skandal stets nah beieinander. Die Erwartungshaltung des Abonnementpublikums nach erbaulichem und leicht verdaulichem Kunstgenuss zu bedienen, ist nie Heymes Sache gewesen.
Theater ist nach Heymes Credo kein Musentempel, sondern eine aufklärerische Anstalt für "subventionierte Opposition". Ein Ort, an dem gezündelt werden muss, um das Denken zu verändern. In der Bühnenszene gilt Heyme deshalb als Gralshüter des politischen Regietheaters – und als "Klassik-Killer", der konventionelles Schauspiel durch experimentelle Bearbeitung bis zur Unkenntlichkeit verfremdet.
Publikumsprügelei im Parkett
1935 in Bad Mergentheim geboren, beginnt Hansgünther Heymes Laufbahn Mitte der 1950er Jahre als Assistent von Theater-Urgestein Erwin Piscator. Die Arbeit mit dem aus der Emigration heimgekehrten Theaterrevolutionär prägt Heymes Textverständnis grundlegend. Ob bei den antiken Dramen von Sophokles, Euripides und Aischylos, den Klassikern Hebbel, Lessing und allen voran Schiller, oder bei modernen Stücken – Heyme analysiert gründlichst, bürstet jede Vorlage brachial gegen den Strich und arbeitet aktuelle Deutungen heraus. Dabei schreckt er vor drastischen Texteingriffen und schockierenden bis monströsen Darbietungen seiner Schauspieler nicht zurück.
Bereits seine erste große Bearbeitung von Schillers "Wilhelm Tell" 1965 in Wiesbaden löst einen "Bürgerkrieg" im Parkett aus. "Die Menschen haben die Stühle rausgerissen und sich damit geprügelt", erinnert sich Heyme heute noch gern. Die Wiesbadener Inszenierung schreibt Bühnengeschichte und begründet seinen Ruf als kompromisslos aggressiven Modernisierer. Wer Theater macht, so Heymes Überzeugung, "muss auf diese Gesellschaft wirken und sich nicht selbst befördern wollen. Entscheidend ist, dass wir Einfluss auf diese Gesellschaft haben." Als ausgewiesener "Bühnenrevoluzzer" kommt Hansgünther Heyme 1968 nach Köln, wo er das in Konventionen erstarrte Schauspiel gründlich entstaubt.
Mit 80 zurück zu den Anfängen
1979 tritt Heyme die Nachfolge von Claus Peymann am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart an. Dort schlägt ihm im Gegensatz zum hochgelobten Vorgänger der Wind heftig ins Gesicht; vor allem seine Klassiker-Inszenierungen werden vernichtend rezensiert. Nach sieben Jahren flüchtet er vor der "Hetzkampagne" ins Ruhrgebiet. Heyme wird Schauspieldirektor am Essener Grillo-Theater, Professor an der Folkwang-Schule und künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Neben seinen Festanstellungen setzt Hansgünther Heyme auch mit Gastinszenierungen immer wieder aufklärerische Akzente. Seine nicht wenigen Gegner hingegen lehnen ihn als unbelehrbaren Polit-Dogmatiker, über den die Zeit hinweggegangen ist, vehement ab.
Auch in Essen bleibt Heyme nicht unumstritten; 1992 kündigt er aus Ärger über Kürzungen des Kulturetats. Nach einem missglückten Intermezzo in Bremen konzentriert er sich ganz auf die Ruhrfestspiele und formt sie zu einem Theaterfestival von internationalem Rang. 2004 endet die Ära Heyme in Recklinghausen. Als vorerst letzte Station übernimmt der "harte Malocher" (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt) bis 2014 die Leitung des "Theaters im Pfalzbau" in Ludwigshafen, einer Gastspielbühne ohne eigenes Ensemble. Mit 80 Jahren ohne feste Bindung an ein Haus genießt Hansgünther Heyme nun seine neue Freiheit: "Ich bin von großer Lust beseelt, mir jetzt die Projekte zu erarbeiten, wie ich das früher mit 20 auch getan habe."
Stand: 22.08.2015
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