Von einem Tag auf den anderen hat Rolf Magener keinen Namen mehr, nur noch eine Nummer. Ein "ewiges Einerlei von Morgenappell und Abendappell, von Einheitsfutter aus Einheitstellern vom Einheitstisch" bestimmt nun das Leben von Häftling 1775. Seit 1938 hatte er in Bombay den Chemiekonzern I.G. Farben vertreten. Dann brach in Europa der Weltkrieg aus und Magener wurde von den Briten als feindlicher Ausländer interniert. Auf engstem Raum mit 1.500 Männern zusammengepfercht, sitzt der Deutsche jahrelang im berüchtigten Lager Dehradun am Fuße des Himalayas.
"Der Zuchthäusler (…) kennt wenigstens die Länge seiner Kerkerfrist", schreibt Magener. "Wer von uns aber wusste zu sagen, wie lange die Gefangenschaft noch dauern würde?" Der Kaufmann und sechs Landsmänner wollen sich ihrem Schicksal nicht ergeben. Sie wählen die gefährliche Flucht ins Ungewisse, die Magener später zu seinem Buch "Die Chance war gleich Null" verarbeitet.
In die Freiheit geblufft
Niemandem hat bislang aus der "Stadt der Verzweiflung" am Dach der Welt entkommen können. Magener schreckt das nicht ab. Seit seiner Jugend liebt der 1910 in Odessa geborene Sohn einer Russin und eines deutschen Kaufmanns Herausforderungen. An der Cote d’Azur aufgewachsen, studiert er in Deutschland und England Betriebswirtschaft und erhält mit 25 Jahren eine Anstellung bei der I.G. Farben, jenem Konzern, aus dem nach Kriegsende die BASF hervorgeht. Die Chemiefirma schickt den perfekt englisch sprechenden Kosmopoliten zuerst nach China und 1938 ins indische Bombay.
Im April 1944, fünf Jahre nach seiner Verhaftung, startet Magener seinen minutiös geplanten Ausbruch. In khakibraunen Uniformen, perfekt getarnt mit Tropenhelm, Stöckchen und der coolen Attitüde englischer Offiziere, führen Magener und sein Freund Heins van Have eine Gruppe "Inder" zum schwer bewachten Tor von Dehradun. Unter den Verkleideten ist auch der berühmte Bergsteiger Heinrich Harrer. Der freche Bluff gelingt tatsächlich; ungehindert führt Captain John Edward Harding alias Rolf Magener die Fluchtgruppe aus dem Lager heraus. Ihr Ziel ist das 2.000 Kilometer entfernte und vom deutschen Verbündeten Japan besetzte Burma.
Charismatischer Chef der "Magener Boys"
Harrer wählt mit seinen "Indern" die Nordroute über Tibet; Magener und Have schlagen sich nach Süden durch Hindustan, über Kalkutta bis in den Golf von Bengalen durch. Dort kämpfen sie sich durch den Dschungel, bis sie, drei Monate nach dem Ausbruch, endlich auf japanische Truppen treffen. Als englische Spione verdächtigt, werden die seltsamen Deutschen wochenlang verhört, bis man sie nach Tokio ausfliegt. "Als das Flugzeug sich in die Luft erhob, saßen wir nachdenklich und still auf unseren Sitzen. Soviel Unwahrscheinliches", notiert Magener. "Es war ein Grenzerlebnis, etwas, das macht, dass man ein anderer wird, als man vorher war."
Erst 1947 ist Magener mit seiner Frau Doris, die er in Tokio geheiratet hat, zurück in Deutschland. 1955 tritt er in die Dienste der BASF und steigt 1962 in den Vorstand auf. Als Finanz- und Investmentexperte treibt Magener bis zu seiner Pensionierung 1974 maßgeblich den Ausbau des Ludwigshafener Unternehmens zum Global Player voran. Seine Untergebenen von damals, firmenintern "Magener Boys" genannt, schätzen noch heute die menschlichen Qualitäten des charismatischen Managers. "Er war ein Menschenfänger und konnte Menschen an sich binden", lobt Jürgen Strube, der den Konzern von 1990 bis 2003 führte. "Alle, die bei den Magener Boys dabei waren, pflegte er als seine Söhne zu betrachten, aber auch zu behandeln." Am 5. Mai 2000, kurz vor seinem 90. Geburtstag, stirbt Rolf Magener in Heidelberg.
Stand: 05.05.2015
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