"Ja, wer weiß denn überhaupt, was sich im Herzen eines Frischverhafteten abspielt!", schreibt Alexander Solschenizyn. Wie ist es, auf offener Straße abgefangen zu werden oder abgeholt frühmorgens oder des Nachts von zu Hause? Solschenizyn, selbst acht Jahre in verschiedenen Lagern inhaftiert, gibt Antworten. "Die traditionelle Verhaftung, das heißt auch noch: mit zitternden Händen zusammensuchen, was der Verhaftete dort brauchen könnte: Wäsche zum Wechseln, ein Stück Seife und was an Essen da ist, und niemand weiß, was notwendig und was erlaubt ist und welche Kleidung am besten wäre, die Uniformierten aber drängen: 'Wozu das alles? Dort gibt's Essen genug. Dort ist's warm'", schreibt Solschenizyn. Und weiter: "Alles Lüge". Dort – das ist die Welt des Gulag, Glawnoje uprawlenije lagerej, russisch für Hauptverwaltung des Justiz- und Arbeitswesens.
"Siebenmal höhere Sterberate als in der übrigen Bevölkerung"
Der Gulag ist ein abgeschottetes Lagersystem, dass der sowjetische Diktator Josef Stalin seit 1929 errichten und perfektionieren ließ. Per Dekret forderte er, die Arbeitskraft der Häftlinge stärker zu nutzen. Die Verhafteten in den zahlreichen Lagern im sowjetischen Wald- und Steppenmeer sterben an Erfrierungen, Unterernährung, Überarbeitung, an Krankheiten und den Folgen von Strafen und Folter. "Eine bis zu siebenmal höhere Sterberate als in der übrigen Bevölkerung darf als wahrscheinlich angenommen werden", heißt es in einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung. 18 bis 20 Millionen Menschen sollen zwischen dem Ende der 1920er- und der Mitte der 1950er-Jahre in den Lagern inhaftiert gewesen sein. "Eine Zahl, die so groß ist, dass man sich auch ohne genauere Kenntnisse dieses düsteren Kapitels der Sowjetunion denken kann, dass die meisten der Gefangenen keine 'gewöhnlichen' Kriminellen waren", schreibt Michael Saager für die Bundeszentrale für politische Bildung. Der Autor Solschenizyn selbst wurde in den letzten Kriegsmonaten überraschend verhaftet - er hatte sich in einem privaten Brief abfällig über Stalin geäußert.
Solschenizyn: "Ich schreibe für das sprachlose Russland"
Öffentlich wird kaum über die Lager gesprochen. Das ändert sich 1973, als in Paris ein Buch Solschenizyns erscheint, herausgeschmuggelt aus der Sowjetunion, "Archipel Gulag". Gewidmet ist es "all jenen, die nicht genug zum Leben hatten, um dies zu erzählen". An anderer Stelle sagt er: "Ich schreibe für das sprachlose Russland."
Solschenizyn berichtet von millionenhaften Anklagen, Verhaftungen und Lageraufenthalten bis hin zum Tod. "Und selbst in Zeiten wahrer Verhaftungsepidemien, als die Menschen sich allmorgendlich von ihrer Familie verabschiedeten, weil sie sich nicht sicher waren, abends nach der Arbeit auch wieder heimzukehren – selbst damals ergriff fast keiner die Flucht." Gerade weil vor allem Unschuldige verhaftet wurden, waren die Opfer nicht auf Widerstand vorbereitet.
Die Leser des "Archipel Gulag" sind gespalten. Die Einen sind erschüttert, so brutal und schonungslos ist das Buch. Andere – vor allem Kommunisten – halten es für einen antisowjetischen Propagandafeldzug. Viele fragen sich, ob sie einen Roman, eine Autobiografie oder einen historischen Tatsachenbericht lesen. Solschenizyn nennt die Kollage den "Versuch einer künstlerischen Bewältigung". Über zehn Jahre lang hat er im Geheimen an dem 1800-seitigen Werk gearbeitet, Zeitzeugenberichte, historische Quellen und seine eigenen Erfahrungen als Häftling eingebracht. Als der sowjetische Geheimdienst KGB das Manuskript entdeckt, lässt Solschenizyn eine Kopie, die sich bereits im Westen befindet, veröffentlichen. Stalins System der Verfolgung und Straflager ist plötzlich weltweit bekannt.
Solschenizyn wird aus der Sowjetunion ausgebürgert
Alexander Solschenizyn, damals bereits Literaturnobelpreisträger, wird wenige Monate nach dem Erscheinen seines Buches in Frankreich aus der Sowjetunion ausgebürgert. Stalin ist bereits seit 20 Jahren tot. Doch über seine Verbrechen wollen die neuen Herrscher im Kreml weiter schweigen. Erst 1990 erhält Solschenizyn die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück und stirbt 2008 mit 89 Jahren in Moskau.
Stand: 28.12.2013
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.