Fünfeinhalb Quadratmeter misst die Grundfläche ihres Verlieses im Keller eines Hauses in der Nähe von Wien: sechs Schritte lang, vier Schritte breit, zwanzig Schritte im Kreis. Es ist dunkel, feucht und kalt. Ein Ventilator pustet abgestandene Luft hinein. Wenn Natascha Kampusch wissen will, wie viel Zeit vergeht, muss sie die Sekunden selbst zählen.
Und es vergeht viel Zeit: 3.096 Tage. So lange muss Natascha Kampusch in der Gewalt ihres Entführers Wolfgang Priklopil ausharren. Achteinhalb Jahre sind das, fast so viel wie ihr bisheriges Kinderleben.
Entführt auf dem Weg zur Schule
Natascha Kampusch ist zehn Jahre alt, als Wolfgang Priklopil sie auf ihrem Weg zur Schule in einen weißen Kastenwagen zerrt und entführt. Priklopil sperrt das Mädchen nicht nur in das Verlies im Keller seines Hauses. Er missbraucht sie als Arbeitssklavin, will absolute Macht über sie. Auch körperlich sucht er ihre Nähe. Aber, darauf legt Natascha Kampusch später Wert: Es gelingt ihm offenbar nicht, sie zu brechen.
Sie gestaltet ihr Verlies mit, sucht sich Beschäftigungen, gibt ihren Tagen eine selbstgewählte Struktur - schafft sich Inseln der Selbstbestimmung. Sie trotzt ihrem Entführer Bücher ab, Zeitungen, ein Radio. Bastelt, schreibt, malt.
Bald darf sie sich freier bewegen, im Haus, im Garten. Priklopil fühlt sich immer sicherer: Er geht mit Natascha Kampusch in die Drogerie, den Baumarkt, zum Skifahren. Dabei droht er ihr, alle zu erschießen, wenn sie um Hilfe ruft. Lange Zeit glaubt sie ihm.
Flucht nach 3.096 Tagen Gefangenschaft
Natascha Kampusch (2009)
Aber auch sie droht ihm: Eines Tages werde sie gehen, werde sie fliehen können. Am 23. August 2006 kommt der Tag. Als Natascha Kampusch in der Garage das Auto saugt, klingelt Priklopils Handy. Zum ersten Mal seit acht Jahren dreht er sich für einen Moment weg - und Natascha Kampusch ergreift die Flucht. Es ist Tag 3.096 ihrer Gefangenschaft, sie ist mittlerweile 18 Jahre alt.
Acht Stunden nach ihrer Flucht wirft sich Wolfgang Priklopil vor einen Zug der Wiener Schnellbahnlinie S1.
Kampusch versucht, ihren Entführer zu verstehen
Zwei Wochen nach ihrer Selbstbefreiung gibt Natascha Kampusch ein vielbeachtetes TV-Interview. Vor dem Journalisten Christoph Feurstein sitzt keine junge, gebrochene Frau - sondern eine, die die Regeln, nach denen man von nun an mit ihr umgehen soll, selbst bestimmen will. Ihr Blick auf den Entführer ist differenziert. Statt ihn zum Monster zu machen, versucht sie, ihn zu verstehen.
Im Laufe der Jahre befassen sich zahlreiche Untersuchungsausschüsse mit dem Fall. Dabei wird deutlich: Das Ringen um Autonomie, um die Hoheit über ihr Leben und ihre Geschichte, hat für Natascha Kampusch nach jenen 3.096 Tagen Gefangenschaft nicht aufgehört - im Gegenteil.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Kerstin Hilt
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 02. März 2023 an die Entführung von Natascha Kampusch.
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