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Die Baracken der Obdachlosen in Berlin, Holzstich, 1872

25. Juli 1872 - Mieterkrawalle nach Zwangsräumung in Berlin

Stand: 19.07.2022, 10:12 Uhr

Eine boomende Stadt, steigende Mieten: Das war schon im 19. Jahrhundert so, besonders in Berlin. Am 25. Juli 1872 begehren Mieter in der Blumenstraße mit Krawallen auf - gegen Wohnungsnot und Rechtlosigkeit.

Tischler Ferdinand Hartstock muss seine Wohnung in der Blumenstraße 51c in Berlin-Friedrichshain verlassen - und zwar sofort. Am 25. Juli 1872 erhält er die Nachricht "Raus aus der Wohnung, heute noch!" Der Grund: Die Wohnung soll zu einem höheren Preis neu vermietet werden. Mieterrechte gibt es damals nicht.

Hartstock habe "unrechtmäßig einen Untermieter" in seiner Wohnung, lautet die Begründung. Allerdings: Ohne solche Untermieter, oft "Schlafburschen" genannt, die lediglich für ein paar Stunden ein Bett benutzen dürfen, können sich viele Familien die horrenden Mieten gar nicht leisten. Hartstocks Vermieter hat sie lange geduldet, jetzt liefern sie ihm den nötigen Vorwand. Sogar die Polizei rückt an, um den Tischler vor die Tür zu setzen.

Lautstarke Proteste

So steht Hartstock plötzlich samt Hausrat auf der Straße. Dagegen protestiert er so lautstark, dass die Nachbarn hellhörig werden. Es sind Nachbarn, die selbst wissen, wie es ist, aus einer Wohnung geschmissen zu werden. Im Berlin zur Kaiserzeit keine Seltenheit.

Krawalle wegen Wohnungsnot in Berlin (am 25.07.1872)

WDR ZeitZeichen 25.07.2022 14:53 Min. Verfügbar bis 25.07.2099 WDR 5


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Immer mehr Menschen kommen zusammen und solidarisieren sich mit Hartstock, die Stimmung kocht. Dann fliegen die ersten Steine auf die Polizisten und die Wohnung des Vermieters, der im selben Haus wohnt. Erst weit nach Mitternacht können die Beamten die tobende Menge zerstreuen.

Am nächsten Tag ist es die Weltpolitik, die die Stimmung weiter anheizt. Der Kaiser von Österreich und der Zar von Russland haben sich zu einem Staatsbesuch angekündigt. Auf ihrem Weg durch Berlin müssten sie Barackensiedlungen am Frankfurter Tor passieren. Die ärmlichen Holzhütten werden von Polizei und Feuerwehr kurzerhand niedergerissen.

Die an die Luft gesetzten Bewohner ziehen Richtung Obdachlosenasyl - direkt vorbei an der Blumenstraße. Die Krawalle flammen wieder auf. Sie sind noch heftiger als zuvor und gehen erneut bis in die Nacht.

Blumenstraßenkrawalle wirkungslos

Der Deutsche Kaiser Wilhelm I. hört vom Aufruhr und weist den Berliner Polizeipräsidenten an, mit aller Härte vorzugehen. Dieser lässt Plakate aufhängen und droht den Protestierenden, schwer bewaffnet einzuschreiten und dabei nicht zwischen Neugierigen und Übeltätern zu unterscheiden. Sogar das Militär steht jetzt mit scharfer Munition bereit.

Doch es muss nicht eingreifen, die Drohung wirkt. Deutlich weniger Menschen strömen am dritten Tag auf die Straße. Wer doch protestiert, wird festgenommen. Der Aufstand fällt in sich zusammen, die Spur des Tischlers Hartstock verliert sich. Auf der Liste der Verhafteten und Verurteilten - manche bekommen mehrere Jahre Zuchthaus - ist er nicht zu finden.

Damals wie heute ist die Wohnungsnot in der Hauptstadt groß. Schon im 19. Jahrhundert sind Immobilien Spekulationsmasse, nur die Rendite zählt. In der Gegenwart sind die Methoden der Eigentümer immerhin nicht mehr so rabiat - und es gibt Mieterrechte. Diese und der soziale Wohnungsbau entstehen aber erst viel später während der Weimarer Republik.

Autorin des Hörfunkbeitrags: Kerstin Hilt
Redaktion: Matti Hesse​

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