Lesefrüchte
"Das unsichtbare Band" von Haneen Al-Sayegh
Stand: 14.06.2024, 13:56 Uhr
Haneen Al-Sayegh zeigt, wie ein patriarchalischer Mikrokosmos seit Jahrhunderten funktioniert. Starr, beengt, aber auch Halt und Identität gebend. Und wie sich Amal draus befreit, auch wenn "das unsichtbare Band" sie immer mit ihrer Herkunft verbindet.
Doch eines Tages lehnt sich Amal gegen das ihr aufgezwungene Schicksal auf und geht. Hinter sich lässt sie auch Tochter Rahma. Sie zieht nach Beirut, schließt ihr Masterstudium in Literatur ab und erhält eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin. Überhaupt zu studieren, dazu an einer renommierten Universität, verdankt sie allein sich selbst, ihrem Durchsetzungswillen und ihrer Begabung.
Die Lage stabilisiert sich langsam. Die Scheidung wird akzeptiert, Amal darf Rahma regelmäßig sehen. Und in dem ägyptischen Schriftsteller Ahmed, der für Frauenrechte in der arabischen Welt eintritt, findet sie schließlich ihr Glück. "Das unsichtbare Band" ist zwar vor allem ein Plädoyer für individuellen Aufbruch und Selbstbestimmung, aber eben auch für Zusammenhalt und Empathie.
Autorin Haneen Al-Sayegh pflegt einen anschaulichen und schonungslos ehrlichen Schreibstil. Von Seite Eins an identifiziert man sich mit Ich-Erzählerin Amal. "Das unsichtbare Band" ist eine höchst lesenswerte, emotionale wie intellektuelle Auseinandersetzung mit Herkunft, Familie und Gemeinschaft - aber auch ein Loblied auf Freiheit, Ichfindung und Traumerfüllung.
Amals direktes Erleben sowie ihre tiefgründigen Gedanken über Gott und die Welt sind hier untrennbar miteinander verwoben und machen aus "Das unsichtbare Band" ein bescheidenes und umso imposanteres Meisterwerk. Auch dank der organischen Übersetzung von Hamed Abdel-Samad, der die ebenso opulente wie präzise Sprache klangvoll ins Deutsche überführt.
Eine Rezension von Moritz Holler
Literaturangaben:
Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band
Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad
dtv, 2024
336 Seiten, 24 Euro