22.07.2024 - Rossini, „Tancredi“ bei den Bregenzer Festspielen

Stand: 22.07.2024, 09:30 Uhr

"Tancredi" ist eine der wenigen tragischen Opern von Rossini und seine früheste dazu. 1813 hat er das Werk vollendet und erstmals in Venedig herausgebracht. Es ist ein Meisterwerk des 20-Jährigen. Bei der Produktion der Bregenzer Festspiele mit der Dirigentin Yi-Chen Lin und dem Regisseur Jan Philipp Gloger wurde genau das erfahrbar, auch oder gerade weil der Schauplatz von einem mittelalterlichen Sizilien in die heutige Clanwelt (vielleicht ebenfalls auf Sizilien oder anderswo) verlegt wurde.

Das echt Tragische ist eben nicht auf bestimmte Schauplätze beschränkt: zwei eigentlich verfeindete Banden, die sich am Anfang der Oper in einer wilden Schlägerei prügeln, schließen sich auf Weisung des Chefs Argirio, zusammen, um gegen einen gemeinsamen Feind zu kämpfen. Das ist, wie sich später herausstellt, die Polizei in Form eines vor Brutalitäten nicht zurückschreckenden Sondereinsatzkommandos. Orbazzano, der andere Anführer, fordert für seinen Dienst die Hand von Argirios Tochter, die aber Tancredi liebt.

Hier muss jetzt ein kleiner Exkurs folgen: Tancredi ist bei Rossini ein Mezzosopran, aber kein Kastrat, die damals kaum noch zu Verfügung standen, und Heldentenöre gab es auch noch nicht. Die herausgehobenen Partien wurden von hohen Stimmen gesungen, das Geschlecht spielte dabei keine Rolle. Dass für Gloger in seiner Bregenzer Inszenierung Tancredi eine Frau ist, die mit Amenaide in gleichgeschlechtlicher Liebe verbunden ist, ist insofern zwar unhistorisch, aber im Kontext seiner Inszenierung plausibel. Da gibt es nämlich eine wunderbare Szene, in der Anna Goryachova als Tancredi das berühmte "Di tanti palpiti" in einer anrührenden weiblichen Zartheit singt und dabei in das Mädchenzimmer von Amenaide eingedrungen ist und die Gegenstände dort in einer Art liebkost, wie es wohl kein männlicher Liebhaber tun würde.

In dieser Szene zeigte Yi-Chen Lin am Pult der Wiener Symphoniker, wie zart – und nicht nur maschinell virtuos Rossini klingen kann, inklusive der sanften Hornrufe in dieser Arie. Solche Stellen gab es noch viele weitere, namentlich in den Duetten zwischen Tancredi und Amenaide. In "Ah come mai quell’anima" aus dem 2. Akt kommen Mélissa Petit und Anna Goryachova in einem einvernehmlichen Parallelgesang zusammen, wie ihn Mozart nicht schöner hätte komponieren können. Und geradezu revolutionär mutet das tragische Finale der Oper (in Ursprungsversion) an, in der die Musik auf die Worte des sterbenden Tancredi förmlich verebbt.

In dem besagten Mozart-artigen Duett haben sich die beiden, obwohl Tancredi von dem Verrat Amenaides immer noch überzeugt ist, sich behutsam einander wieder angenähert, zuerst in dem nach dem Todesurteil leergeräumten Mädchenzimmer, dann auf der Straße vorsichtige Zärtlichkeiten austauschend. Gloger bespielt wie hier die vielen Winkel, Mauern, Türen und Requisiten in einer von Ben Baur realistisch gestalteten Drehbühne, die eine alte Stadtvilla darstellt, wo sich der Clan von Argirio breitgemacht hat, so, dass die Motive, Gedanken und Emotionen der Personen in lebensnahen Situationen deutlich werden, als ein Ineinander von Raum und Aktion.

Und wo vielleicht schauspielerisch doch nicht ganz so viel zu holen war wie bei Antonino Siragusa als Argirio in seiner Droharie "Pense che sei mia figlia" im ersten Akt , glich dieser phänomenale Spintotenor, der auf der Bühne ein bisschen wirkte wie ein Pizzabudenbetreiber, das sofort aus, indem er - trotz des vordergründigen Rossini-typischen Koloraturenfeuerwerks – zeigte, was es heißt, stimmliche Empörung und Warnrufe auszudrücken, nämlich durch ein kontrolliert-kultiviertes Schmettern anstatt durch jauchzende Stimmakrobatik, und das in einer Opernmusik, die, wie gesagt, noch keine Heldentenorpartien kannte.

Dieser "Tancredi" ist ein großer Wurf szenisch und musikalisch.

Premiere: 18.07.2024, besuchte Vorstellung: 21.07.2024, noch am 29.07.2024

Besetzung:
Argirio: Antonino Siragusa
Tancredi: Anna Goryachova 
Orbazzano: Andreas Wolf 
Amenaide: Mélissa Petit 
Isaura: Laura Polverelli
Roggiero: Ilia Skvirskii

Stunt-Factory
Prager Philharmonischer Chor
Wiener Symphoniker 

Musikalische Leitung: Yi-Chen Lin
Inszenierung: Jan Philipp Gloger
Bühne: Ben Baur
Kostüme: Justina Klimczyk
Licht: Martin Gebhardt
Kampfchoreographie: Ran Arthur Braun
Chorleitung: Lukáš Vasilek
Dramaturgie: Claus Spahn, Florian Amort