Migrationsgeschichten mit viel Soul
Album der Woche: Liam Bailey - "Zero Grace"
Stand: 25.02.2024, 00:00 Uhr
Der Brite Liam Bailey mischt Reggae, Folk und R&B aus dem Röhrenverstärker. Er singt über Migration, Rassismus, Familientraumata - und seine Musik gibt Hoffung in schwierigen Zeiten. Baileys Album "Zero Grace" ist wie eine warme Umarmung.
Von Adrian Nowak
Nicht jede Musikkarriere verläuft geradlinig und führt aus dem Proberaum in die Popcharts. Liam Bailey schwankte immer zwischen vielversprechenden Erfolgen und zahlreichen Rückschlägen. Seine erste EP erschien 2010 auf dem Label von Amy Winehouse, die kurz darauf verstarb. Mit den Drum&Bass Produzenten Chase & Status hatte er in Großbritannien den Megahit "Blind Faith", seine Zusammenarbeit mit einem Majorlabel verlief unglücklich.
Seine musikalische Heimat fand er bei dem US-Producer Leon Michels, dessen analoger Retro-Ansatz perfekt zum zeitlos-souligen Sound von Liam passt.
Soulbrüder im Geiste
Leon Michels hat mit seiner Band El Michels Affair Wu-Tang Clan Beats neu interpretiert, lieferte das Instrumental für "Summer" von Beyoncé & Jay-Z, erforschte psychedelischen Orientrock mit der Sängerin Piya Malik, arbeitete mit Soulstimmen wie Lee Fields und Popstar Norah Jones. 2005 fand die erste Begegnung von Leon und Liam in New York statt und es entstanden erste Singles. Das erste gemeinsame Albumprojekt veröffentlichten die vielbeschäftigten Soulbrüder im Geiste aber erst Jahre 2020. "Ekundayo" war eine akustische Offenbarung, mit rumpeligen Reggaetunes, ungeschliffenem Funk und schwebendem Soul.
Sonniger Schrammel Sound
Diese Elemente hört man auch auf "Zero Grace", diesmal mit einer zusätzlichen Prise Rock- und Singer/Songwriter-Einflüssen. Bei zwei Reisen in Leon Michels Studio im Hudson Valley hockten sich die beiden Freigeister zusammen, dazu kam der Bassist und Schlagzeuger Nick Movshon, bekannt durch seine Arbeit mit Antibalas, Sharon Jones oder Mark Ronson. Alle Songs entstanden durch gemeinsame Jamsessions, oft reichten ein oder zwei Takes und die Stücke waren im Kasten. Songs wie "I Got No Answers" oder "Holding On" klingen sympathisch schrammelig, inspiriert von 70's-Rock-Heroen wie Jimi Hendrix und Cream oder dem aktuellen Zamrock-Sound der Band WITCH. An einigen Stellen erhebt sich Liam Baileys kraftvolle Stimme in ungeplante Höhen und klingt deswegen auf den Aufnahmen leicht verzerrt. Doch perfekt sollte es nicht klingen, dafür erdig und ehrlich, genauso wie die Texte von Liam Bailey.
Geschichten und Geschichte
"Zero Grace" - also "Ohne Anmut" - steht dafür, dass man Dinge klar benennt - aber vielleicht nicht unbedingt auf eine wohl überlegte oder vernünftige Art und Weise.
Liam Bailey taucht auf Songs wie "Disorder starts at home" tief ein in seine Vergangenheit, singt zu folkigen Akkorden über seine Eltern. Sein Vater hatte Wurzeln in Jamaika, seine Mutter war Britin, 1983 kam ihr Sohn Liam in Nottingham zur Welt. Er thematisiert häusliche Gewalt und singt über seinen Vater: "He was cursed by his foolish hands". Die Beziehung zerbricht und Liam bleibt bei seiner Mutter, erst seit ein paar Jahren hat er wieder mehr Kontakt mit seinem Erzeuger. Dabei erfährt er, dass er sein Gesangstalent von seinem Urgroßvater geerbt hat, der in den 40ern in jamaikanischen Hotels für Touristen gesungen hat. Die Old-School-Soul-Nummer "Dance With Me" ist eine Ode an seinen musikalischen Vorfahren und erinnert an die frühen 60er, als die ersten Aufnahmestudios in Jamaika entstanden und zunächst US-R&B mit karibischem Flavour gespielt wurde. Von persönlichen Erlebnissen zoomt er später heraus und betrachtet in "Mercy Tree" das große Ganze, sprich die finstere britische Kolonialgeschichte. Auf einem trockenem Funk Beat mit opulenten Bläsern schildert er das Schicksal der karibischen Einwanderer in Großbritannien: "We gave our blood and labor, you couldn't call yourself my neighbour".
Nobody's perfect
Zwischen all den persönlichen und sozialkritischen Texten lädt er uns immer wieder zu einem unbeschwerten Tänzchen ein, erinnert mit Tunes wie "Sour Wine" oder "Canary In the coal mine" an den Early Reggae der späten 60er. Im letzten Stück "Light up the darkness" setzt sich Liam mit uns ans Lagerfeuer, singt einem Text des Folkmusiker Sam Genders von der Band Tunng und lädt uns dazu ein unsere Fehler zu umarmen. "Zero Grace" klingt wie ein unvergesslicher Kneipenabend mit guten Freunden. Es wird gelacht, getanzt, geflirtet, aber auch philosophiert, geweint, gestritten - und am Ende liegen sich alle in den Armen.