"Ginga" - Sinnlicher Slowdown von Flavia Coelho
Stand: 09.06.2024, 00:00 Uhr
Flavia Coelho ist schillernder Star des Global Pop und eine der wichtigsten Stimmen der brasilianischen Musik-Diaspora. Auf ihrem 5. Album "Ginga" geht sie musikalisch zurück in ihre Teenagerzeit, zeigt sich die Sängerin weicher und sinnlicher und fordert uns mit schaukelnden Melodien zum Slowdown auf.
Von Anna-Bianca Krause
Flavia Coelho fasziniert. Die Sängerin und Songwriterin ist die erfolgreichste brasilianische Künstlerin in Europa. Seit 2006 lebt die 43-Jährige in Paris, wo sie inspiriert von der globalen Musikszene der französischen Metropole zusammen mit dem Musiker und Produzenten Victor Vagh-Weinmann den Stil Bossamuffin erfand, einen gut gelaunten Mix aus Bossa Nova, Reggae, Forrò, Frevo, Chanson, Brazil-Pop und Raggamuffin. Seitdem war ihr Aufstieg zum Global Pop Star nicht mehr zu stoppen. Das singende Energiebündel mit dem überbordenden Lächeln eroberte die Menschen mit ihrem Temperament und ihrer kehlig-sinnlichen Stimme. Auf ihrem 4. Album "DNA" wurde Coelho 2019 dann – ausgelöst durch die Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens - vom singenden Sonnenkind zur politischen Künstlerin. Mit ihrem 5. Album "Ginga" geht sie nun wieder in eine andere Richtung.
Das kleine Radio
Musikalisch ist "Ginga" von der Musik inspiriert, die Coelho in jungen Jahren gehört hat. Schon als kleines Mädchen liegt sie nachts bis 2 Uhr wach, um brasilianische und internationale Musik aus dem Radio aufzusaugen: Madonna, Marvin Gaye, Michael Jackson, jede Menge Reggae, Funk, House, Samba, Soul, aber auch die kitschige Musik der südamerikanischen Telenovelas hat sie aus dieser Zeit mitgenommen. Denn sie weiß schon mit 11, dass sie ihren Weg als Sängerin gehen wird. Zwei Jahre hat sie nun am neuen Album gearbeitet. Hat viel Klassik gehört, um neue Kompositionsarten kennen zu lernen und sich mit Tracks zu beschäftigen, die aktuelle 2- bis 3-Minuten-Formate sprengen. Coelho möchte, dass die Menschen sich mehr Zeit für ihre Musik nehmen und hat ihre Songs deshalb entschleunigt und sich Zeit gelassen. Im Vorfeld hat sie alle ihre musikalischen Ideen mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und dann im Studio aus diesem Basismaterial mit ihrem langjährigen Kollaborateur, dem Musiker und Produzenten Victor Vagh-Weinmann, die 10 neuen Songs destilliert. Den Mix hat sie anschließend in die Hände erfahrener Kollegen wie Tom Fire, Prince Fatty, Paul Cucuron von Synapson oder Guts gegeben.
Die Frauen & der Nordosten
Die Songtexte drehen sich vor allem um ihre Kindheit und Jugend in Brasilien : Das Aufwachsen in inmitten vieler Frauen, die sich gegenseitig unterstützten, den erlebten Rassimus in Rio, weil ihre Roots im Nordosten des Landes liegen, die Widerstandslust der Brasilianerinnen und Brasilianer oder den selbst erlebten Übergang ins digitale Zeitalter.
Flavia Coelho feiert auf jedem ihrer Alben mit einem Song die Frauen, und in einem der Songs erzählt sie vom Nordosten Brasiliens, der Heimat ihrer Eltern. Diesmal kommen beide Themen im Song "Nordestina" zusammen, indem sie über die Kraft der Nordestinas, der Frauen aus dem Nordosten singt, wie ihre Mutter eine war. Die taucht auch in "Mama Santa" noch einmal auf. Der Song ist eine Hommage an ihre Mutter, die mit 38 Jahren gestorben ist, als Flavia 11 Jahre alt war. Diese Mutter war nicht nur Maskenbildnerin und Friseurin, sondern auch militante Feministin und LGBTQ-Aktivistin. Und nicht zuletzt eine Königin der Nacht und des Baile Funk in Rio.
Beweg dich langsam
Coelho hat das Energie-Level gedrosselt und schaukelt uns mit ihren Melodien und ihrer Stimme, die noch weicher ist als sonst. Die Songs und der Gesang bewegen musikalisch und inhaltlich. Und das steckt schon im Titel, denn Ginga ist einerseits einer der Grundschritte der Capoeira, diesem als Tanz getarnten Kampf, mit dem sich versklavte Menschen verteidigt haben. Ginga sagt man in Brasilien aber auch zu einem Menschen, der viel bewegen kann, auch seinen Körper. "Ginga" ist anders als die Vorgängeralben und doch typisch Flavia Coelho: Sie hypnotisiert uns vom ersten Song an.