Ezhel: "Derdo"
Stand: 02.12.2024, 00:00 Uhr
Ezhel lebt als einer der erfolgreichsten türkischsprachigen Rapper der Welt seit fünf Jahren in Berlin. Die politischen und sozialen Umstände in der Türkei thematisiert er in seinen Songs heute aus der Ferne – und prägt aus dem Exil die türkischsprachige Rap-Szene weltweit.
Von Vincent Lindig
Bittersüße Melancholie zwischen Berlin und Ankara
Ezhel wurde 1991 als Sercan İpekçioğlu geboren. Sein Vater verließ früh die Familie, seine Mutter war Tänzerin, die in der staatlichen Tanzgruppe bei Empfängen und Staatsbesuchen auftrat. Mit gerade einmal 15 Jahren brach er die Schule ab, ging von zu Hause weg und schlief bei Freunden – während er sich auf den Weg machte, seinen Traum vom Leben als Rapstar zu verfolgen. Er experimentierte aber auch mit Reggae, Dub und Ragga.
Zeitgleich politisierte sich der junge Ezhel und kam in Kontakt mit anarchistischen Gruppen, bei den Gezi-Protesten aus dem Jahr 2013 war er als Teil einer bekannten Fußball-Ultragruppe an den Demonstrationen beteiligt. Sein erstes Album respektive Mixtape, "Müptezhel", ein Wortspiel mit seinem Künstlernamen und dem türkischen Wort für "wertlos", machte Ezhel 2017 in der Türkei zu einem Star der Rapszene. Damals schon an seiner Seite: Bugy und Artz, die zwei Produzenten, die bis heute seinen Sound prägen. Aber erstmal standen Probleme ins Haus.
13 Monate Haft für Songtexte
Auf "Müptezhel" ist auch der Song "Geceler", türkisch für "Nächte", der sich schnell zu einem Hit entwickelt. Auf dem Song rappt Ezhel auch über Marihuana-Konsum und beschreibt den Lifestlyle einer jungen türkischen Generation, der nicht ins Bild der religiös-konservativen Führung des Präsidenten Erdogan passt. Mitte 2018 wird Ezhel von der Polizei verhaftet und wegen Anstiftung zum Drogenkonsum verurteilt – ursprünglich drohen ihm bis zu 10 Jahre Haft. Auch nach seiner vorzeitigen Freilassung freundet er sich mit den herrschenden politischen und sozialen Realitäten nicht an: 2019 veröffentlichte Ezhel den Song "Olay" (dt: Unfall). Ein hochpolitischer Song, in dem er die Regierung und die Polizeirepression kritisiert.
Das Video besteht aus Collagen von Aufnahmen, die während des gescheiterten Militärputsches 2016 und politischen Protesten gegen die Regierung aufgenommen wurden. Kurze Zeit später zieht Ezhel nach Berlin und kann seitdem nicht mehr in seine Heimat zurück, wie er im COSMO Interview erzählt: "Ich kann nicht zurück in die Türkei fliegen und wenn es keine Möglichkeit gibt, dann wird man traurig und deswegen wollte ich darüber reden. Ich vermisse viele Leute, Heimweh ist nicht nur, dass ich meine Heimat vermisse, sondern auch meine Freunde, meine Familie…
Berlin aka Küçük Istanbul
In Berlin beginnt für Ezhel ein neues Leben – der damals Ende-Zwanzigjährige zieht ins brodelnde Neukölln und stürzt sich in den Strudel der Hauptstadt. Er begibt sich auf Spurensuche und entdeckt, dass türkischer Rap in Berlin seinen Ursprung nahm – in der Gegend rund um das Kottbusser Tor, auch Küçük Istanbul genannt, also "Klein-Istanbul". Ezhel connected mit Pionieren der Szene und nimmt Kontakt auf mit seiner Cousine, DJ Ipek, die seit den 90ern die queere migrantische Musikszene der Stadt prägt.
Sie ist bis heute ein wichtiger Anlaufpunkt und familiärer Anker für Ezhel. Die Musikszene Deutschlands nimmt den türkischen Star Ezhel mit offenen Armen in Empfang – schnell folgen gemeinsame Songs mit Künstlern wie Gentleman, Luciano oder der Dancehall-Clique Jugglerz. Berlin wird schnell Ezhels neue Heimat – aber es bleibt die Sehnsucht und das Heimweh, das mit dem Exil kommt.
Liebe, Exzess und Einsamkeit
"Derdo" ist Ezhels erstes Berlin-Album – komplett in seiner neuen Heimatstadt entstanden und voll mit Geschichten über Liebe, Exzess und Einsamkeit. Der von Kopf bis Fuß tätowierte Rapper ist im Strudel der Hauptstadt angekommen. Dazu mischen sich Sehnsucht und Heimweh des Exils und gehen in einem Gefühl auf, das der Albumtitel mit dem türkischen Kunstwort "Derdo" [MM1] zusammenfasst. ""Derdo" ist, wie kann ich sagen: Jemand with Blues, aber man mag es auch", erklärt Ezhel. "Bisschen Melancholie, aber es gibt auch Ruhe in dieser Melancholie. Das ist ein östliches Gefühl. Bittersüß kann man sagen – in der Türkei haben wir das, deshalb ist es ein bisschen schwer, das zu übersetzen". Die Süße geben Liebessongs wie "Sensin O" oder "Pencerende", die voller romantischer Wortspiele und Metaphern stecken und damit ganz in der Tradition der bildreichen türkischen Poesie stehen.
Die Bitterkeit stellt sich bei Songs wie "Kadehimi Boş Bırakma" oder "Kedi" ein, die zwischen den Zeilen von Rastlosigkeit und Drogenkonsum gegen die Einsamkeit singen. Keine leichte Kost, sondern das Abbild eines komplexen Künstlers, der alle Phasen des Lebens durchlebt und abbilden will. Dabei wechselt Ezhel immer wieder vom Türkischen ins Englische oder streut deutsche Wörter ein – für ihn ein ganz natürlicher Umgang mit Sprachen, wie er erzählt: "Das ist auch meine Wahrheit, meine Realität. Ich spreche drei Sprachen jeden Tag. Und ich mag auch Sprachenlernen. Aber wenn ich rappe, rede ich über mein Alltagsleben, nur Wahrheit. Ich habe nie etwas gesagt, dass ich nicht gelebt habe. Ich habe immer die Wahrheit gesagt".
Ein moderner Aşık
In seinen Songs kombiniert Ezhel traditionelle Harmoniemuster der Arabeske mit komplex verschachtelten Rap-Pattern. Die Gesangsparts hoch und verletzlich, die Rap-Strophen dunkel und rauh. Die Texte voller poetischer Wortspiele und Metaphern. Ezhel sieht sich dabei in der langen Tradition der Ozans oder Aşıks, fahrende Sänger, die seit dem 16. Jahrhundert im heutigen Gebiet der Türkei, Aserbaidschans und Armeniens über die Klänge der Saz Geschichten erzählten: "Diese Ozans oder Asiks hatten Freestyle-Battles", erzählt er voller Begeisterung. "Es ist wie Rap, 4 Bars, 4 Bars, auch mit Rhymes und so. Es ist Rap ohne Beats! Die türkische Sprache ist besonders, weil man kann viele Wordplays machen. Gedichte, oder sehr alte türkische Poetry. Man kann es überall finden. Als neuer Ozan benutze ich das auch".
Und auch, wenn Ezhel wegen seiner pro-kurdischen Haltung und seiner Kritik an türkischem Ethno-Nationalismus für viele in seinem Heimatland als Nestbeschmutzer gilt: er selbst sieht sich als Bewahrer einer Tradition und Kultur, die über Nationalgrenzen hinaus geht, wie er erklärt: "Wir brauchen es nicht, als eine Nation zu sein oder als Türke zu sein. Ich liebe alle Kulturen der Welt. Für mich sind Kultur und Traditionen sehr wichtig. Das ist wie ein Schatz glaube ich. Wir nehmen es von unserer Vergangenheit und tragen es in Zukunft, glaube ich".
Berlin UND Ankara
Auf dem Cover sind die Skylines von Ankara und Berlin zu sehen – beide Städte scheinen in Flammen zu stehen. Ezhel ist an den Ursprung des türkischen Raps zurückgekehrt und prägt jetzt aus Berlin heraus die weltweite türkischsprachige Szene. Mit "Derdo" hat er seiner neuen Heimat einen Soundtrack geschrieben, der zwischen wilden Partynächten und einsamen Tagen des Zweifels alles abdeckt. Die Sounds, die seine Leibproduzenten Bugy und Arts für die Beats samplen, sind aus der reichen Schatzkammer der türkischen, kurdischen und anatolischen Musikkultur gegriffen und bringen Ankara und Berlin näher, als sie je waren.