Der Schatten oder, noch besser: die unergründliche Welt seiner vielfältigen Nuancen spielen in Jörg Widmanns Musik eine weitaus größere Rolle als das Licht, vielleicht weil jenseits der ausgeleuchteten und damit bekannten Zonen noch Überraschungen warten. Auf der Klarinette, seinem eigenen Instrument, Neuland zu erschließen, bedeutet allerdings auch für Jörg Widmann eine Herausforderung. "Ich klopfe mir beim Schreiben gleichsam selber auf die Finger, weil ich vermeiden möchte, dass alles nur aus bekannten Griffkombinationen entsteht", versucht der Instrumentalist die gewohnten Bewegungsmuster zu durchbrechen.
Jörg Widmann über seine "Drei Schattentänze"
WDR Sinfonieorchester Video. 03.03.2021. 03:42 Min.. Verfügbar bis 30.12.2099. WDR 3.
Die drei kurzen Tänze erkunden jeweils eine eigene Schattenwelt. In den Echospielen des ersten lässt Widmann einfache und damit stereotype Kontrastpaare wie "nah und fern" oder "laut und leise" weit hinter sich. Im "Echo- Tanz" begegnet man leisem Fortissimo ebenso wie lautem Pianissimo. Es gibt leuchtend helle Einzeltöne, raue Mehrklänge, Weiches und Hartes. Außerdem öffnet sich die Welt der Mikrointervalle zwischen den vertrauten Tonabständen, wie sie die westlichen Tonleitern vorgeben. Die Mikrointervalle versteht Jörg Widmann wie Emotionen, als eine reiche Schattenwelt, die es zu erforschen gilt. Im "(Unter-)Wasser-Tanz" wandelt sich der Ausdruck von einer Geste zur nächsten: von "schüchtern" über "zögernd" und "lauernd" zu "bedrohlich". Der fast ausschließlich perkussive "Afrikanische Tanz" ist schließlich den Klappen- und Atemgeräuschen gewidmet.
Nicht zufällig erinnern die drei Miniaturen in ihrer Kürze und Dichte an einen Mikrokosmos der Möglichkeiten des Klarinettenspiels. Entstanden 2013 als Wettbewerbsstücke für die Beijing International Music Competition, führen sie in bestehende und neue experimentelle Spieltechniken ein. "Zwanzig Jahre nach meinem bisher letzten Solostück für mein Instrument, der 'Fantasie' für Klarinette solo, habe ich mich noch einmal neu verliebt in die Seele und das Innenleben dieses wunderbaren Geheimnis-Instrumentes", gesteht Widmann. Warum er die Klarinette ausgerechnet tanzen lässt, verrät er nicht. Doch das Tanzen passt zum Wesen nicht nur seines eigenen Spiels, sondern seiner Musik überhaupt, der er keine Grenzen zwischen Geist, Seele und den Regungen und Bewegungen des Körpers zieht. Oder wie der Musikwissenschaftler Max Nyffeler einmal schrieb: "Wer den Komponisten Jörg Widmann verstehen will, sollte vorher den Klarinettisten Jörg Widmann gehört haben."
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