Junge hält beim Erledigen seiner Hausaufgaben seinen Kopf

Kinder und Jugendliche: Mehr ADHS nach Corona

Stand: 07.08.2024, 18:02 Uhr

Nach der Corona-Pandemie haben im Rheinland mehr Kinder und Jugendliche Pflegebedarf wegen ADHS und anderen Entwicklungsstörungen. Was die Zahlen aussagen.

Nach der Corona-Pandemie ist im Rheinland die Zahl der Kinder mit Pflegebedarf wegen ADHS und Entwicklungsstörungen sprunghaft angestiegen. Das geht aus einem Report des Medizinischen Dienstes Nordrhein für die Jahre von 2019 bis 2023 hervor.

"Wir können nur die Zahlen feststellen, aber der zeitliche Zusammenhang deutet darauf hin, dass es auch einen kausalen Zusammenhang mit Corona gibt", sagte eine Sprecherin am Mittwoch dem WDR.

Anstieg bei ADHS

Der Medizinische Dienst Nordrhein, der für den Westen von NRW (ohne Westfalen) zuständig ist, hat für den Report entsprechende Pflegegutachten ausgewertet.

Blick in ein leeres Klassenzimmer

Während Corona geschlossen

Demnach war 2019 ADHS bei Grundschulkindern (7 bis 10 Jahre) rund 400-mal der Grund für eine Pflegebedürftigkeit. 2022, nach der Corona-Pandemie, wurden bereits mehr als 900 Fälle registriert, 2023 stieg die Zahl laut dem Report auf über 1.300 Fälle.

Kinder mit ADHS brauchen zum Beispiel oft deutlich mehr Unterstützung bei alltäglichen Verrichtungen als andere Kinder ihres Alters. Eltern können dann Hilfe durch einen ambulanten Pflegedienst, Pflegegeld oder auch Pflegesachleistungen beantragen.

Insgesamt Zunahme bei Entwicklungsstörungen

Die Gesamtzahl tiefgreifender Entwicklungsstörungen, zu denen auch Autismus und das Asperger-Syndrom zählen, stieg in der Altersgruppe nach der Corona-Pandemie massiv an – von rund 760 Fällen 2019 auf gut 1.400 im Jahr 2022 und dann auf über 1.900 im Jahr 2023.

Bei den Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren zeigte sich der Trend noch deutlicher: 2019 sei rund 300-mal eine Pflegebedürftigkeit wegen ADHS diagnostiziert worden, fast 1.300-mal im Jahr 2023.

Die Zahlen decken sich im Kern mit Werten des Medizinischen Dienstes Westfalen-Lippe. Auch hier habe man im selben Zeitraum einen deutlichen Anstieg der genannten Entwicklungsstörungen festgestellt, teilte der Dienst auf WDR-Anfrage mit.

Verschieden Gründe für hohe Zahlen

Professor Jörg Dötsch, Direktor der Kinderklinik der Uniklinik Köln, sieht als Grund für die Zunahme verschiedene Faktoren - wie er am Mittwoch dem WDR sagte.

Prof. Jörg Dötsch, Direktor der Kinderklinik der Uniklinik Köln

Professor Jörg Dötsch

Ein Faktor sei die "familiäre Belastung", die während der Corona-Pandemie stark zugenommen habe. "Die Pandemie hat wie ein Brennglas auf die Familien gewirkt." Die Auswirkungen bereits vorhandener Entwicklungsstörungen auf das Umfeld seien durch die notwendigen Einschränkungen verstärkt worden. "Deshalb stieg auch der Betreuungsbedarf an."

Ein weiterer Faktor für die gestiegenen Zahlen sei auch die positive "Errungenschaft", dass mittlerweile bei Entwicklungsstörungen von Kindern "mehr Fälle von Pflegebedürftigkeit anerkannt" würden. Dies spreche sich auch unter den Betroffenen und ihren Selbsthilfegruppen herum. Deshalb würden mehr Anträge auf Pflege gestellt als früher. "Mehr Familien machen von der Möglichkeit Gebrauch", so Dötsch.

Gesamtzahlen nicht so stark gestiegen

Zur Einordnung der Zahlen wies Dötsch noch auf einen dritten Faktor hin. Die aktuelle Studie des Medizinischen Dienstes Nordrhein betrachte nur die Pflegebedürftigkeit. Es sei dabei - zum Beispiel - nicht um die Zunahme der ADHS- oder Autismus-Spektrum-Erkrankungen insgesamt gegangen.

Die Gesamtzahlen zumindest eines Teils der Entwicklungsstörungen sei innerhalb der letzten zehn Jahre zwar auch gestiegen, aber bei weitem nicht in diesem Ausmaß, wie die Pflegefälle zugenommen hätten.

Dötsch: "Mehr ambulante Behandlungsmöglichkeiten"

Um die Situation der Kinder und ihrer Familien zu verbessern, müssen nach Meinung von Dötsch "mehr ambulante Behandlungsmöglichkeiten" eingerichtet werden. Das gelte sowohl für die niedergelassenen Kinderärzte und Kinderpsychiater als auch für die Kliniken.

Das sei wichtig, weil zum Beispiel die ADHS- oder Autismus-Spektrum-Diagnosen von Fachleuten gestellt werden müssten. "Eine Einschätzung durch das Umfeld der Kinder reicht dafür nicht aus." Ein spezialisiertes Behandlungsteam sei in der Lage, zielgerichtet herauszufinden, was ein Kind brauche. Das sei individuell und vor allem je nach konkretem Erkrankungsbild verschieden. Deshalb seien maßgeschneiderte Lösungen notwendig. "Es darf weder zu viel noch zu wenig gemacht werden", sagte Dötsch.

Unsere Quellen:

  • WDR-Gespräch mit Jörg Dötsch, Direktor der Kinderklinik der Uniklinik Köln
  • Sprecherin des Medizinischen Dienstes Nordrhein
  • Medizinischer Dienst Westfalen-Lippe
  • Nachrichtenagentur dpa

Über dieses Thema berichtet der WDR am 10.08.2024 auch im Fernsehen, in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.

Weitere Themen