Wie konnte der 27-jährige Münsteraner den Sohn seiner Lebensgefährtin jahrelang unbemerkt immer wieder schwer sexuell missbrauchen? Warum hatten frühere Verurteilungen durch Gerichte keine durchschlagenden Konsequenzen? Weshalb griffen Polizei und Jugendamt nicht stärker in die Familie des missbrauchten zehnjährigen Jungen ein?
- Sendehinweis: Lokalzeit Münsterland | 10. Juni 2020, 19.30 Uhr
Hinter vielen Fragen, die sich nach der Aufdeckung der schweren Fälle von Kindesmissbrauch in Münster stellen, steckt die Frage, ob die monströsen sexuellen Verbrechen verhindert hätten werden können.
Die Ermittler
Der Hauptverdächtige aus Münster, Adrian V. ist schon seit Jahren im Visier der Behörden. Als der Pädosexuelle den Ermittlern im Internet erstmals durch Kinderpornografie auffiel war er gerade mal 17 Jahre alt. Polizisten, die verdeckt auf den Internetforen der Pädosexuellen ermittelten, kamen ihm auf die Spur.
Im Vorfeld der aktuellen Festnahme gab es zuletzt im Mai 2019 Hausdurchsuchungen bei dem Hauptbeschuldigten. Dabei wurden große Mengen an Daten gefunden, die laut Polizei "hochprofessionell" verschlüsselt waren. Fraglich ist, ob sie schneller hätten entschlüsselt werden können.
Etwa ein Jahr brauchten Experten der Polizei für die Entschlüsselung der Daten. "Die Polizei Münster hat das Jugendamt der Stadt Münster direkt am 13.05.2020 von den neuen Ermittlungen gegen den 27-jährigen Beschuldigten informiert", heißt es in einer Mitteilung. Erst da habe sich laut Staatsanwalt Martin Botzenhartd ein "Anfangsverdacht" ergeben. In der Zeit bis zur Festnahme im Juni 2020 dürfte das Netzwerk der Pädosexuellen demnach unbehelligt geblieben sein.
Netzwerke und Unmengen von Daten
Laut Staatsanwaltschaft soll der 27-Jährige die Vergewaltigungen gefilmt und fotografiert haben. Über das Darknet verbreitete er die Bilder. Als IT-Spezialist nutzte er unter anderem die Netzwerke seines früheren Arbeitgebers, um Kinderpornografie zu verbreiten. Ebenso das Netzwerk des Kleingartenvereins in dem die Laube seiner Mutter steht, Ort zahlreicher Verbrechen. Der 27-Jährige Hauptverdächtige aus Münster soll seinen Stiefsohn über Monate schwer missbraucht und zum Missbrauch angeboten haben.
Insgesamt sieben Server soll Adrian V. für seine monströsen Verbrechen genutzt haben. Die Ermittler sprechen von "mehreren hundert" Datensätzen mit einem Speichervolumen von mehr als 500 Terabyte. Alle Aufnahmen seien "hochprofessionell" verschlüsselt, die Auswertung und somit die Suche weiterer Pädosexueller dürfte sehr langwierig sein.
Die Gerichte
Die ersten Taten, die zur Verurteilung von Adrian V. führten liegen zwischen 2010 und 2014. Zwei Mal war der 27-Jährige deshalb wegen der Verbreitung und des Besitzes von Kinderpornografie verurteilt worden, 2016 und 2017. In beiden Fällen bekam er zweijährige Strafen auf Bewährung. Da das erste Verfahren nach Jugendstrafrecht verhandelt wurde, ließen sich "die beiden Strafen vom Verfahren her nicht kombinieren", so der Sprecher des Amtsgerichts, Matthias Bieling.
Diskussion um härtere Strafen
Weil Adrian V. überhaupt angeklagt war, wurde parallel auch ein Verfahren vor dem Familiengericht aufgenommen. Das war im August 2015. Es ging dabei um Mutter und Kind - nicht um den Hauptbeschuldigten selbst. Auch das Jugendamt war daran beteiligt, wurde um einen Bericht gebeten. Bereits nach einem ersten Erörterungstermin sei das Verfahren aber eingestellt worden. "Die Schwelle, um als Staat, als Gericht in die elterlichen Grundrechte einzugreifen - dafür hat das Gericht keinen Anlass gesehen" so Gerichtssprecher Matthias Bieling.
Der Landesvorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, betonte im Interview mit dem WDR darum: "Es wird die Diskussion brauchen, wie viele Bilder ich eigentlich verbreiten muss, bis ich in Haft komme." Ähnlich äußerte sich auch der Missbrauchsbeauftrage der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig. Die Diskussion um härtere Strafen gegen Pädokriminelle hat dadurch gerade neu begonnen.
Das Jugendamt
Das Jugendamt in Münster hatte sich bereits vor Jahren um die Familie gekümmert, es gab Gespräche mit der Mutter und ihrem Kind. Intensiver geschah das vor allem ab Sommer 2015 - als das Familiengericht den Fall behandelte. Das Jugendamt schaltete ein Expertengremium ein, recherchierte auch in der Schule und im Sozialen Umfeld des zehnjährigen Jungen. Dabei habe man "keine Hinweise auf eine mögliche Gefährdung des Kindes erhalten", so die Stadt Münster. Das Kindswohl schien den Jugendamtsmitarbeitern damals letztlich nicht gefährdet.
Kritik daran, dass der Kontakt zur Familie in der Folge abgerissen ist, gibt es unter anderem vom Kinderschutzbund NRW. Der Missbrauchsfall wäre "vermeidbar gewesen, wenn das Kind frühzeitig aus der Familie genommen worden wäre" sagte Heinz Hilgers der Präsident DKSB am Dienstag (09.06.2020). Der Staat könne diese "Kinderrechte in das Grundgesetz bringen" und Gesetze daraufhin prüfen.
Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe Berlin kritisierte am Dienstag (09.06.2020) ebenfalls die Strukturen im System an sich: "Für mich gibt es ganz klar Defizite in der Gefahrenlagebeurteilung, oft auch bei Familiengerichten und beim Jugendamt - weil man kann nicht mit Sicherheit ausschließen, dass jemand rückfällig wird." Außerdem brauche es einen Wechsel in der Ausrichtung der Ämter, "dass man sich am Kindeswohl zu orientieren hat und an der Gefahrenprognose und nicht an der Familienförderung."
Nach eigenen Angaben prüft die Stadt Münster aufgrund der aktuellen Debatte ihre Arbeit jetzt nochmals. Aber die Stadt erwidert auch, man habe es mit einer neuen Qualität von Täterstrukturen zu tun. "Täter im sexuellen Kindesmissbrauch sind mittlerweile technisch so versiert und manipulieren ihre Opfer derart, dass es schwierig ist, Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung zu bekommen", heißt es in einer Stellungnahme.
Das Umfeld
"Nach den mir vorliegenden Informationen ist der Hauptbeschuldigte mit seiner pädophilen Neigung offen umgegangen. Andere Personen, die mit ihm Umgang hatten, sollen hiervon gewusst haben", sagte Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt am Dienstag (09.06.2020) dem WDR.
Ob es also mögliche Mitwisser im Umfeld des 27-Jährigen gab ist Gegenstand der Ermittlungen. Besonders im Fokus stehen dabei weiter die Mutter des mutmaßlichen Haupttäters sowie die Lebensgefährtin von Adrian V., die Mutter des Kindes. Dass die junge Mutter trotz allem mit dem Pädosexuellen zusammen lebte, wirft auch für die Ermittler Fragen auf.
Schutz durch das eigene Umfeld?
Psychologen wie Dieter Seifert, Chefarzt der Christophorus-Klinik für forensische Psychiatrie in Münster sehen hinter dem Schweigen ein generelles Muster. "Wir wissen von einer Reihe von Sexualstraftätern, gerade mit pädophilen Neigungen die in der Lage sind, dass Kind dazu zu bringen, dass es nichts sagt", sagte Seifert dem WDR. Sie hätten das Talent "auch das Umgebungsfeld da für sich einzunehmen, sodass das lange unentdeckt bleibt."