Große Betroffenheit in Attendorn: Tochter jahrelang eingesperrt

Stand: 07.11.2022, 07:25 Uhr

In Attendorn im Sauerland soll ein achtjähriges Mädchen über viele Jahre von seiner Mutter zuhause eingesperrt worden sein. Warum - das ist noch völlig unklar. Die Mutter schweigt bisher zu den Vorwürfen.

Von Christian Albrecht und Christian Wolf

Noch sind viele Fragen offen, aber was bislang über den Fall eines acht Jahre alten Mädchens aus dem Sauerland bekannt ist, sorgt für Entsetzen. Das Kind aus der Stadt Attendorn im Kreis Olpe durfte wohl fast sein ganzes Leben lang das eigene Zuhause nicht verlassen. Die Mutter soll das Kind über sieben Jahre im Haus festgehalten haben.

Keine Hinweise auf physische Misshandlungen

Schon Ende September haben Jugendamt und Polizei das Haus durchsucht und dabei das Mädchen gefunden. Doch erst jetzt wird der Fall öffentlich. Dem Kind gehe es "den Umständen entsprechend gut", sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthus dem WDR. Es lägen keine Hinweise auf Misshandlungen vor. Das Mädchen werde von einer Pflegefamilie betreut.

Von Grotthuss erklärte am Sonntag, dass bereits ein Antrag gestellt sei, für das Kind einen sogenannten gerichtlichen Ergänzungspfleger beizuordnen. "Die Eltern können ja nicht mehr für das Kind entscheiden, zumindest die Mutter jetzt nicht", sagte er.

Warum die Mutter ihr Kind offenbar eingesperrt hat, ist bisher völlig unklar. Die Mutter und die Großeltern schweigen zu den Vorwürfen. Die Ermittler gehen derzeit davon aus, dass das Mädchen das Haus nicht verlassen durfte, seitdem sie anderthalb Jahre alt war.

Italien-Lüge der Mutter

Derzeit stellt sich der Fall laut den Ermittlungen so dar: Gegenüber den Behörden sowie dem Vater des Kindes, der schon damals von der Familie getrennt lebte, gab die Frau an, mit der Tochter zu Verwandten nach Italien zu ziehen. Doch stattdessen lebte sie wohl weiterhin bei ihren Eltern im Haus in Attendorn. Warum sie das tat, ist nicht bekannt.

Durchsuchungsbefehl nach Rückfragen in Italien

Trotz der Italien-Lüge wurden irgendwann das Jugendamt und die Polizei tätig. Denn es gab anonyme Hinweise. Wie der Kreis Olpe am Sonntag mitteilte, sei das Jugendamt diesen Hinweisen auch mehrmals nachgegangen. Doch die Versuche, das Haus zu betreten, blieben offenbar jedes Mal erfolglos. Die ebenfalls im Haus lebenden Eltern der Mutter verweigerten angeblich den Zutritt.

Die Behörden tauschten sich daraufhin mit den italienischen Kollegen aus. Und die bestätigten, dass Frau und Kind nie in Italien gelebt haben. Die Polizei bekam daraufhin einen Durchsuchungsbefehl und fand das Mädchen in dem Haus in Attendorn.

Viele Fragen an Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt

Rainer Rettinger vom Deutschen Kinderverein zeigt sich von dem Fall sehr betroffen. Er fragt im Gespräch mit dem WDR, warum man den anonymen Hinweisen nicht konkret nachgegangen sei und sich an der Tür von den Großeltern habe "abwimmeln lassen". In dem Attendorner Fall seien "viele Fragen erlaubt: an die Polizei, die Staatsanwaltschaft und das Jugendamt."

Für die Jugendämter sieht Rettinger die Notwendigkeit einer Verdopplung des Fachpersonals. Manche der Fachkräfte in Deutschland betreuten jeweils bis zu "100 Familien mit einer entsprechenden Anzahl Kindern."

Wie soll da Kinderschutz gewährt werden? Rainer Rettinger vom Deutschen Kinderverein

Kein Wald, keine Autofahrten - nur im Zimmer

In der Kinderklinik Siegen wurde das Mädchen untersucht | Bildquelle: WDR

Laut Staatsanwaltschaft wurde das Kind nach der Befreiung in der Kinderklinik Siegen untersucht. Dabei soll sie gesagt haben, dass sie noch nie einen Wald gesehen habe, noch nie auf einer Wiese gewesen oder in einem Auto gefahren sei. Stattdessen soll sie vor allem in einem Zimmer bei verschlossener Tür gelebt haben.

Diese Umstände haben offenbar Spuren hinterlassen. So soll das Mädchen kaum in der Lage sein, allein Treppen zu steigen oder Unebenheiten im Boden zu überwinden. Sich artikulieren oder laufen ist laut Oberstaatsanwalt von Grotthuss aber möglich. Auch sei das Kind nicht unterernährt.

Vorwurf der Freiheitsberaubung

Die Ermittlungen zu dem Fall stehen noch am Anfang. Zunächst sollen mehrere Gutachten erstellt werden. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegenüber der Mutter lautet Misshandlung von Schutzbefohlenen und Freiheitsberaubung. Auch gegen die Großeltern wird ermittelt. Derzeit tappe man noch im Dunkeln, "was da möglicherweise in den Köpfen der Menschen vorgegangen ist", wie von Grotthuss sagte.

Attendorn liege auf dem Land. "Man denkt ja, die Sozialkontrolle funktioniert da noch." Aber selbst die Nachbarn hätten nicht gewusst, dass Mutter und Kind im Haus gewesen seien.

"Das macht betroffen"

Uli Selter, stellvertretender Bürgermeister von Attendorn | Bildquelle: WDR

Der stellvertretende Bürgermeister von Attendorn, Uli Selter, erfuhr auch erst am Samstag von dem Fall. "Es ist noch viel zu früh, jetzt ein Urteil abzugeben. Die Hintergründe sind uns allen noch unbekannt. Aber emotional in der eigenen Stadt so etwas wahrzunehmen, das macht betroffen", sagte er dem WDR.

Kreis will mögliche Versäumnisse prüfen

Am Sonntag teilte der Kreis Olpe mit, dass alle "verfahrensbezogenen Vorgänge im eigenen Haus" im Zusammenhang mit dem Fall geprüft werden, also auch die Arbeit des Jugendamtes. Landrat Theo Melcher setzt darauf, dass alle noch offenen Fragen bald geklärt werden: "Ich hoffe, die Ermittlungen geben Antworten auf die uns alle bewegende Frage, warum das Mädchen über so viele Jahre versteckt wurde und ihm ein ,normales‘ Kinderleben verweigert wurde."