Şehzade Abdülhamid II (1842-1918) wahrscheinlich auf Balmoral Castle (GB) im Jahre 1867

Türkei unzensiert - Exklusiv

Das unabänderliche Gesetz der Türkei: Schuld und Sühne!

Stand: 01.06.2017, 22:00 Uhr

Über Abdulhamid II., den 34. Herrscher der Osmanen streitet man sich bis heute, ohne einen Konsens zu finden. Für die Jungtürken war er der "Rote Sultan", der viel Blut vergoss und mit eiserner Hand regierte. Für die anderen, die seine panislamistische Politik befürworteten ist er der "Erhabene Fürst!". Es ist unmöglich, über seine Person und seine Politik einer Meinung zu sein. Dennoch können sich alle über seinen Spruch "Nicht die Geschichte wiederholt sich, sondern die Fehler!" einig sein.

Von Bülent Mumay

So kann man die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts denn auch sehen: Eine Aneinanderreihung der wiederholten Fehler. Die schwierige Reise der Demokratie, die wiederholt fast alle zehn Jahre durch einen Putsch unterbrochen wurde, zeigt auch im 21. Jahrhundert keine große Veränderung. Nur der Zeitraum zwischen den Fehlern, die wir wiederholen hat sich verkürzt. Waren wir noch mit der politischen Stabilität, dem wirtschaftlichen Aufschwung und den Reformen auf dem Weg zu einem Star der Europäischen Union, so hat unsere DNS uns in den kranken Strudel zurückgezogen. Besonders ab 2007 haben wir nicht nur Ähnliches erlebt, es war fast genau dasselbe.

ALLES FING MIT 27 HANDGRANATEN AN

Vor genau 10 Jahren wurden in einer Baracke in Ümraniye, einem Stadtteil von Istanbul, 27 Handgranaten entdeckt. Der Fund, eindeutig geklaute Armeemunition, war das Anfangssignal für eine tausende Menschen umfassende gigantische Untersuchung in der Armee, der Politik und Medien. Geführt wurde der Eingriff von einer Bürokratie, der Erdoğan die Justiz und Sicherheitskräfte überlassen hatte. Der Grund für den Eingriff waren angebliche Putschpläne innerhalb der Armee. Man nannte die Aktion Ergenekon (nach dem Ursprungsmythos der türkischen Stämme). Sie gebar anschließend etliche Folgeanklagen. Zuerst nahm man Kommandanten in Gewahrsam, anschließend streng kemalistische Journalisten. Auch Ahmet Şık, der die Kader Fethullah Gülens im Staatsapparat aufdeckte, war unter den verhafteten. Einige Rechtsanwälte, die in dubiosen Fällen die Verteidigung übernahmen und Mafia-Bosse gesellten sich unfreiwillig zu den Verhafteten. Dann stand die Gülenistische Polizei an der Tür des fast 80-jährigen Ilhan Selçuk, einem renommierten Kolumnisten. Dass Fass lief über, als letztendlich auch Türkan Saylan verhaftet wurde. Morgens um fünf Uhr standen Polizisten vor ihrer Tür, um die todkranke Leukämie-Patientin abzuholen. Das alles reichte aber noch nicht. Auch die Travestiekünstlerin Sisi sollte an den Putschplänen beteiligt sein, wie der Generalstabschef İlker Başbuğ.

MANCHE ERRICHTETEN EINE STATUE, ANDERE BEKAMEN GEPANZERTE FAHRZEUGE

Wehrte man sich gegen das Ergenekon-Verfahren, war man sofort ein Unterstützer der Putschisten, wenn nicht gar selbst ein Putschist. Der damalige Ministerpräsident Erdogan höchstpersönlich unterstützte die Gülen-Kader, indem er sich zum symbolischen Ankläger der Beschuldigten aufspielte. Regierungsnahe Journalisten sahen schon Statuen des Staatsanwaltes Zekeriya Öz überall im ganzen Land, während der damalige Ministerpräsident dem Ergenekon-Bekämpfer gepanzerte Fahrzeuge spendierte.

Jeder, der sich in dem Verfahren hinter der Anklagebank sah, saß in Silivri, in der Haftanstalt. Staatsanwälte beantragten für die Beschuldigten Lebenslange Haftstrafen. Und dann kam es zum Bruch. Niemand weiß, wieso sich Erdogan mit den Gülenisten stritt. Der Streit hatte seinen ersten Höhepunkt in den Korruptionsvorwürfen gegen einige Minister und ihre Söhne, darunter auch der Sohn Erdogans, und gipfelte darin, dass Erdogan die Gülenisten als Terrororganisation proklamierte. Der Ergenekon-Prozess bekam dadurch eine entscheidende Wendung: Beschuldigte, für die man kurz zuvor noch tausende Jahre Haft beantragt hatte, kamen nun frei.

KOMPLOTT TOT, SYSTEM ÜBERLEBT

Prozesse, die 2007 angefangen hatten, endeten nach und nach ab dem 17. Dezember 2013, dem Datum, an dem die Korruptionsvorwürfe herauskamen. Natürlich kamen neben wirklich unschuldigen Journalisten, Politikern und Soldaten auch „dreckige“ Namen auf freien Fuß und galten nun als „Opfer“, genossen Ansehen.

Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 bewahrheitete sich der Spruch „Nicht die Geschichte wiederholt sich, sondern die Fehler“ wieder einmal. Erdoğan verfolgte jetzt die Gülenisten, die er schon Jahre zuvor zu Terroristen erklärt hatte. Sie sollten verantwortlich für den Putschversuch gewesen sein. Die Abrechnung mit den Verantwortlichen des Umsturzversuches brachte den Ausnahmezustand. Aber kurz darauf wurde klar, dass nicht nur Gülenisten aussortiert werden sollten, sondern auch Oppositionelle bestraft.

LASST UNS DEN SULTAN SICH IRREN

Sie verhafteten Ahmet Şık mit der Begründung, er sei Gülenist. Vor 10 Jahren hatten ihn die Gülenisten verhaftet. Das kemalistischste Blatt der Türkei, für das auch Ahmet Şık schrieb, hat jetzt 13 inhaftierte Führungskräfte. Sie werden beschuldigt, die Sekte Gülens zu unterstützen. Eine andere oppositionelle Zeitung, die Sözcü wurde auch als Gülenist angegangen. Ein offenkundig marxistischer Wissenschaftler wurde als FETÖ-Anhänger bezichtigt, seinen Job ist er los. Akademiker, die ihre Unterschrift unter einen Friedensappell gesetzt hatten, wurden als Terroristen gekündigt. Die, die wieder in ihre Arbeit zurückwollten und in einen drei monatigen Hungerstreik traten, wurden in der Nacht aus ihren Wohnungen geholt.

Sie wollen genau dasselbe machen, was auch Gülenisten 2007 gemacht haben: Alle die gegen sie sind in einen Sack stecken und aus dem Weg räumen. Wir fürchten, dass es auch so enden wird. Man kann nur hoffen, dass eines Tages, wenn die Vorzeichen sich verändert haben, nicht diejenigen wieder frei auf den Straßen umherlaufen können, die mit dem Putschversuch 250 Menschen auf dem Gewissen haben. Lassen wir doch den alten Abdulhamid II. ein einziges Mal falsch liegen, der da sagte: „Nicht die Geschichte, sondern die Fehler wiederholen sich.“ Es ist an der Zeit, die Krankheit zu besiegen, bei der die wahren Schuldigen frei sind und die Intellektuellen für deren Schuld bezahlen müssen.