Türkei unzensiert - Exklusiv
Exklusiv | Özel: Menschenrechtsverletzungen in der Türkei finden nun überall statt | Türkiye'deki insan hakları ihlalleri artık her yerde
Stand: 26.07.2017, 15:00 Uhr
Nach den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in den 90ern hatte die Regierungspartei AKP in der Türkei den fast 20 Jahre andauernden Ausnahmezustand beendet. Nun ist die Partei wieder an dem Punkt, wo sie angefangen hatte: "Verschärfte Aufsicht". Allerdings gibt es hierbei einen bedeutenden Unterschied: Die damaligen Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen kamen aus dem kurdisch besiedelten Südostanatolien. Nun werden diese Zustände im ganzen Land angeprangert.
Von Kürşat Akyol
Im vergangenen Jahr haben sich mehr als 100 Parteien, Organisationen und Initiativen zusammengeschlossen und die größte linksorientierte Plattform "Einheit für Demokratie" (DIB) gegründet. Der DIB zufolge geht die Türkei zurzeit durch eine der dunkelsten Zeiten ihrer Geschichte. Statistiken über den Ausnahmezustand, welche die DIB zum Jahrestag des blutigen Putschversuches vom 15. Juli 2016 veröffentlicht hat, sind erschreckend.
Hier einige Ereignisse im Überblick:
- Die Zahl derjenigen, die vom Staatsdienst entlassen wurden, beträgt mehr als 110.000. Zusammen mit den Entlassungen aus dem Privatsektor geht es auf über 135.000 Entlassungen hinaus. Mit der Forderung nach Wiedereinstellung begannen die Akademiker Nuriye Gülmen und Semih Özakca einen Hungerstreik. Am 140. Tag ihres Streiks kämpfen sie nun im Gefängnis gegen den Tod. Auch die Familienmitglieder vieler Inhaftierter versuchen durch Hungerstreik die Entlassung Ihrer Verwandten zu erwirken.
- 12 Abgeordnete wurden inhaftiert. 75 Bürgermeister und Co-Präsidenten sitzen im Gefängnis.
- Insgesamt mehr als 50.000 Personen wurden weggesperrt, nach etwa 8.000 weiteren wird derzeit gefahndet. Ihr Verteidigungsrecht wurde eingeschränkt. Folter und schlechte Behandlung haben zugenommen.
- 136 Journalisten und Medienarbeiter sitzen im Gefängnis (der Türkischen Journalistengewerkschaft zufolge sind es 157). 34 Autoren sind ebenfalls in Haft.
- 180 Medienorganisationen sowie 30 Verlagshäuser wurden geschlossen. Die Konfiszierung und das Verbot von Büchern haben sich gehäuft. Konzerte, Festivals, Theaterstücke wurden verboten.
- Gebetszentren und heilige Tage der Aleviten wurden verboten.
- Die Zivilgesellschaft wurde mit der größten Repression der modernen Zeit konfrontiert.
- Das Streikrecht wurde mehrmals verletzt. Vier angekündigte Streiks wurden verschoben.
- Mehr als 5.600 Akademiker wurden entlassen.
Um einige dieser aufgelisteten Ungerechtigkeiten zu beheben, wurde eine Sonderkommission eingerichtet. Montag, der 17. Juli war der erste Arbeitstag der Kommission, die für die Untersuchung der Dekrete im Ausnahmezustand zuständig ist. Schon am ersten Tag gingen 3.000 Beschwerden ein. Insgesamt werden mehr als 100.000 solcher Einwände erwartet.
Auch wenn die Kommission, die genau ein Jahr nach dem Putschversuch ihre Arbeit aufgenommen hat, einige Fragen offen lässt, kann sie als eine "Chance" für diejenigen, die per Notstandsdekret entlassen worden sind, gesehen werden. Es öffnet vielen den Weg für die Wiedereinstellung. Im schlimmsten Fall können die Betroffenen vor Gericht klagen. Wenn ihnen auch dieser Weg versperrt wird, dann bleibt noch die Möglichkeit einer Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Allerdings gibt es Bedenken bezüglich der Unparteilichkeit dieser Kommission. Fünf der sieben Mitglieder wurden von der Regierung ernannt. Wird die Kommission unter diesen Umständen unparteiische und transparente Arbeit leisten können? Dann gibt es da noch die Sache mit der Zeit. Wenn bei 100.000 Beschwerden jeweils eine Minute für eine Beschwerde in Anspruch genommen wird, dann dauert es fast sieben Monate bis alle Beschwerden beurteilt werden können. Bei fünf Minuten Zeitaufwand wären es schon fast drei Jahre.
Außerdem geht die Regierung davon aus, dass noch viele Putschisten im öffentlichen Dienst tätig sind. Demensprechend kann die Zahl der Beschwerden sich noch locker verdoppeln.
Einige Experten sind der Meinung, dass es mindestens 10-15 Jahre dauern kann, bis für die Opfer des Ausnahmezustandes Gerechtigkeit geschaffen wird. Bei dieser Schätzung sind die indirekt Beteiligten außen vor. Denn von Suspendierungen sind auch die Familien betroffen. Ein Ausreiseverbot für ihre Ehepartner kann erteilt, Reisepässe und Besitztümer können vom Staat eingezogen werden.
Letztendlich hat die Türkei vermutlich mehrere Tausend Prozesse beim Europäischen Gerichtshof für Menschrechte zu erwarten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde nach den erschreckenden Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs gegründet, um die Demokratie, die Justiz und die Menschenrechte zu beschützen. Er ist als ein Organ der Europäischen Kommission teilweise effektiver als die Kommission selbst. Mit seinen Entscheidungen und Rechtsprechungen seit rund 60 Jahren gilt der Gerichtshof in Europa als der Gründer des gemeinsamen Rechtskreises.
Jedoch zählt die Türkei zu den Ländern, die sich diesem Rechtskreis entziehen. Die anderen Länder sind Albanien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Armenien, Georgien Moldawien, Russland, Serbien und die Ukraine.
Im vergangenen April hatte der Europarat die Türkei "aus Sorge um ihre Demokratie" zum zweiten Mal unter "verschärfte Aufsicht" gestellt. Die erste Auflage war im Jahr 1996. Eine Zeit, in der die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im kurdisch besiedelten Südostanatolien begangen worden sind. Ungelöste Mordfälle, in Untersuchungshaft verschwundene Menschen, Folter und weitere Verbrechen gegen das Menschenrecht wurden in dieser Zeit verübt.
Es war die AKP, die es im Jahr 2004 schaffte, die Türkei nach 20 Jahren von diesem Zustand zu befreien. Die AKP war zu dieser Zeit gerade einmal seit zwei Jahren an der Macht. Jetzt wirft die seit 15 Jahren regierende Partei das Land in die alten Zustände zurück.
Es deutet darauf hin, dass dies im Ausnahmezustand, von dem man nicht genau sagen kann, wann er beendet wird, nur der Anfang des Ganzen ist. Zum Thema Verhaftung der acht Menschenrechtsaktivisten, die zu den gegenwärtigen Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland sowie die zwischen der Türkei und der Europäischen Union geführt haben, sind wir noch nicht einmal gekommen.
Bis zu der Debatte über die Demokratie scheint es noch einen langen Weg zu geben. Denn die Türkei kehrt in die Zeit zurück, in der sie die meisten Klageanträge vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhalten hat. Allerdings gibt es diesmal einen bedeutenden Unterschied. In den 90er Jahren waren die meisten dieser Anträge aus der kurdisch besiedelten südostanatolischen Region. Die Verstöße finden nun landesweit statt.
*Aus dem Türkischen von Neslihan Ketboğa