Der Vorsitzende Richter Thomas Kelm am Landgericht Dortmund stellte eine neue Sichtweise auf den Ablauf des Einsatzes vor. Er wies zu Beginn der Verhandlung darauf hin, dass der erschossene 16-jährige Mouhamed Dramé infolge eines möglicherweise rechtswidrigen Pfeffersprayeinsatzes der Polizisten auch in Notwehr auf sie zugegangen sein könnte.
Die Folge dieser Sichtweise wäre, dass der Polizeischütze nicht selbst in Notwehr gehandelt haben könnte. Der Anwalt des Schützen hatte aber am ersten Prozesstag erklärt, sein Mandant habe die Situation während des Einsatzes als bedrohlich empfunden.
Der Lokalzeit-Podcast "Mouhamed Dramé – Wenn die Polizei tötet"
Angeklagte verzichten vorerst auf Aussage
Wegen des Hinweis des Richters verzichteten die Angeklagten vorerst auf ihre Aussage vor Gericht - auch auf Anraten ihrer Anwälte. Kritisch zeigte sich der Anwalt der Nebenklage. Die Aussage des Richters sei sehr unklar gewesen, so der Strafverteidiger Prof. Dr. Thomas Feltes, der zusammen mit Lisa Grüter die Familie von Mouhamed Dramé vertritt. "Unklar ist auch, was das rechtlich für das weitere Verfahren bedeutet. Er kann rechtliche Hinweise geben, die müssen aber klar und deutlich sein."
Einsatzleiter könnte möglicherweise höhere Strafe erwarten
Für Aufsehen sorgte auch der Hinweis des Richters Kelm, dass bei dem Einsatzleiter nicht nur eine Verurteilung wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung durch den Pfefferspray- und Tasereinsatz der Polizisten in Betracht kommen könnte. Stattdessen wäre auch eine Verurteilung wegen eines anderen Vorwurfs möglich. "Jetzt steht im Raum, dass der Einsatzgruppenleiter sich nach Paragraph 357 Strafgesetzbuches strafbar gemacht haben könnte. Das ist die Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat", erklärt die Sprecherin des Dortmunder Landgerichts Nesrin Öcal.
Sollte das der Fall sein, könnte der Einsatzleiter mit einer ähnlichen Strafe rechnen wie der Schütze, der wegen Totschlags angeklagt wurde.
Wortgefecht zwischen Richter und Anwalt der Nebenklage
Richter Kelm sorgte bei den Anwälten der Nebenklage auch für weitere Verstimmungen. Als der sogenannte "Tatbefundbericht", der die Situation des Tatorts nach den tödlichen Schüssen schildert, verlesen wurde, lieferte sich Kelm ein kurzes Wortgefecht mit Feltes. Der hatte darum gebeten, dass die Fotos des Berichts während des Verlesens gezeigt werden sollen.
Kritik an Prozessführung
Feltes kritisierte nach dem Verhandlungstag die Prozessführung des Vorsitzenden: "Wir reden hier über das größte Strafverfahren gegen Polizeibeamte in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg - mit dem schweren Vorwurf 'es ist ein Mensch getötet worden'. Der Vorsitzende macht mir nicht den Eindruck, dass er genau weiß, wie er das Verfahren durchführen wird und welche Beweise er an welcher Stelle einbringen wird." Das sei aber notwendig.
Der Prozess soll am 17. Januar fortgesetzt werden. Dann sollen die ersten Zeugen vernommen werden. Erstmals wollen auch zwei Brüder des getöteten Mouhamed Dramé aus dem Senegal am Prozess teilnehmen.
Unsere Quellen:
- Reporter vor Ort