„Wenn du darüber redest, dann bringen wir deine Schwester um oder lassen deinen Bruder verschwinden!“ Als Miro Lehn diese Drohung hörte, war er gerade fünf Jahre alt. Anfang der 1990er Jahre war das, in einem Ferienlager der Pfadfinder im Rhein-Sieg-Kreis. Miro Lehn heißt eigentlich anders, aber er hat Angst davor, stigmatisiert zur werden, und auch davor, dass Menschen von früher ihn ungefragt kontaktieren. Er ist einer von mindestens 100 Betroffenen deutschlandweit.
Es hat Jahre gedauert, bis Miro Lehn in der Lage war, über seine Erlebnisse zu reden. Er ist ein Teilnehmer der Studie, die zum ersten Mal aufzeigt, wie sexualisierte Gewalt bei einem der großen deutschen Pfadfinder-Verbände ausgesehen hat. Dem WDR erzählt Miro Lehn exklusiv, was er erlebt hat. Etwa drei Jahre sei der Missbrauch gegangen. Bei Gruppentreffen oder auch bei Ausflügen mit Übernachtung.
Missbrauch durch Gruppenleiter
„Schon am Nachmittag hat der sexuelle Missbrauch von jungen Pfadfindern - uns hat man Wölflinge genannt - begonnen", erinnert sich Lehn. Auch daran, dass er nach Hause wollte. „Das ging aber nicht. Schließlich hat ein Gruppenleiter arrangiert, dass ich bei ihm im Zimmer schlafen musste. Er hat mich da gezwungen, ihn oral zu befriedigen und mich dann weiter sexuell missbraucht.“
Lehn ist einer von 26 Betroffenen, die vom sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut IPP befragt wurden. Das Münchner Institut hatte zuvor auch schon Studien zu sexualisierter Gewalt für das Bistum Essen und die evangelische Kirche erstellt.
Mindestens 103 Betroffene
Für die Studie des Bunds der Pfadfinderinnen und Pfadfinder, kurz BdP, stand der Zeitraum vom Gründungsjahr 1976 bis 2006 im Mittelpunkt. Die Forschenden interviewten insgesamt 60 Personen, davon 26 Betroffene und 22 Zeitzeugen. Außerdem wurde Aktenmaterial aus verschiedenen Archiven des BdP gesichtet.
Auf diesen Datengrundlagen identifizierten die Forschenden insgesamt 36 Beschuldigte und 103 Betroffene. Beziehe man auch die Taten mit ein, die zeitlich oder verbandlich nicht genau zugeordnet werden könnten, erhöhe sich die Zahl auf 50 Beschuldigte und 123 Betroffene, schreiben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Sexualität war ein Tabuthema
Die meisten Taten passierten in den 1980er und 1990er Jahren. Betroffen waren Mädchen und Jungen. Bei den fast ausschließlich männlichen Tätern kristallisieren sich zwei Gruppen heraus: Einerseits ältere erwachsene Pfadfinder, die schon seit vielen Jahren engagiert waren, und andererseits Jugendliche oder sehr junge Erwachsene, die ihre Stellung als Leitungsfigur benutzten, um Jüngere sexuell auszubeuten.
Dass sehr junge Menschen schon Führungsverantwortung hatten, ist laut der Studie einer der strukturellen Risikofaktoren in einem Jugendverband wie dem BdP. Die Forschenden schreiben von mangelnder Kontrolle und Anleitung der jungen Führungspersonen. Sexualität und sexualisierte Gewalt seien nicht thematisiert worden und konnten deshalb von den Kindern kaum benannt werden.
„Sehr junge Menschen schon früh in Verantwortung“
Als problematisch habe sich auch erwiesen, dass die Kinder ihrer Gruppe, ihrem Stamm, wie es bei den Pfadfindern heißt, gegenüber unbedingt loyal sein wollten. Und es habe eine ausgeprägte Abhängigkeit einiger Ortsgruppen von besonders engagierten Leitungsfiguren gegeben.
Die Forschenden schreiben: „Im Gegensatz zu anderen Institutionen, in denen in den vergangenen Jahren sexualisierte Gewalt aufgearbeitet wurde, gibt es im BdP eine Besonderheit: Sehr junge Menschen kamen schon früh in Verantwortungspositionen und waren dadurch auch mit dem Umgang mit (Verdachts-)Fällen sexualisierter Gewalt befasst. Zum Teil waren sie selbst betroffen.“
Forschende loben BdP
Der BdP stelle sich als einer der ersten Jugendverbände in Deutschland durch diese wissenschaftlicher Aufarbeitungsstudie seiner Vergangenheit. Das sei mutig, loben die Forschenden.
Die Vertreter des BdP sagten bei der Vorstellung der Studie: „Zu sehen, wie oft wir es nicht geschafft haben, Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen, ist schmerzhaft und unfassbar traurig.“ Der heutige Bundesvorstand sagte, man wolle sich der Verantwortung stellen. Es werde viel Kraft, Mut und Durchhaltevermögen kosten, aber „wir sind immer noch sicher, dass es uns gelingen kann, den BdP zu einem sicheren Ort zu machen.“
„Niemand hat geholfen“
Miro Lehns mutmaßlicher Täter gibt im Internet immer noch an, dass er bei den Pfadfindern mitarbeitet. Bei der Pressekonferenz zur Studie sagten die Vertreter der Pfadfinder allerdings, dass mutmaßliche Täter, die zum Teil auch mehrfach benannt worden wären, bereits aus der Pfadfinderschaft ausgeschlossen wurden. Nach WDR Informationen trifft das auch auf den Mann aus dem Rhein-Sieg-Kreis zu, den Miro Lehn als Täter benennt.
Lehn hat den Missbrauch nie bei der Polizei angezeigt und sich auch nie beim BdP gemeldet. Er habe kein Vertrauen in die Organisation, sagt er. Er ist überzeugt davon, dass andere von den Missbrauchstaten wussten, aber nicht geholfen haben. Deshalb wolle er jeden Kontakt vermeiden. Auf die Frage, was ihm damals geholfen hätte, sagt er: „Bezugspersonen, die mir zugehört hätten und an die ich mich hätte wenden können.“