"Wenn du nicht mitmachst, musst du zurück ins Heim" - diese schreckliche Drohung hörte Melanie F. als Kind immer wieder. Aus Angst machte sie mit. Trank Alkohol, den er ihr gab. Da war sie 13 Jahre alt. "Am Anfang war es Cointreau", erzählt sie in einem WDR-Interview im Februar 2022. Der Pflegevater habe mit ihr gewettet, ob sie es schaffe, die Flasche zu leeren. Dann, ob sie es schaffe, Gegenstände einzuführen. Etwa den Hals einer Petroleumlampe. Daran könne sie sich genau erinnern, weil sie Angst hatte, das Glas könne kaputt gehen. Immer wieder erleidet sie so sexualisierte Gewalt. Von ihrem Pflegevater, der gleichzeitig auch katholischer Priester war.
Über 40 Jahre Missbrauch - ein Serientäter mit Priesterweihe
Ihr Fall ist gut belegt. Was sie erzählt, steht auch in einem Gerichtsurteil des Landgerichts Köln. Denn ihr Pflegevater wurde bereits strafrechtlich verurteilt. Zu zwölf Jahren Gefängnis. Über 40 Jahre lang missbrauchte er Mädchen. Ein Serientäter mit Priesterweihe. Melanie F. war im Strafrechtsprozess aber nur Zeugin. Ihr eigener Fall geschah Ende der 70er- und in den 80er-Jahren und ist deshalb strafrechtlich verjährt.
Klage gegen Erzbistum Köln eingereicht
Gegen die Kirche als Institution aber kann sie klagen. Und das tut sie jetzt. Am Dienstag haben ihre Anwälte die Klageschrift beim Landgericht Köln eingereicht. Wegen Kontrollversagens, sagt ihr Anwalt, Eberhard Luetjohann. Eine der Bedingungen des Bistums an den jungen Pfarrer sei gewesen, dass mit den Kindern auch eine Haushälterin ins Pfarrhaus einziehen müsse. "Diese Bedingung wurde nie erfüllt. Und es ist auch niemals jemand zur Kontrolle dort vorbeigegangen."
Kölner Kardinal Joseph Höffner erteilte Genehmigung für Pflegekinder
Eine Haushälterin hätte bemerkt, dass sie stundenlang mit dem Täter ins Bad musste, davon ist Melanie F. überzeugt. Dass Priester Ue. Pflegekinder haben durfte, genehmigte der damalige Erzbischof von Köln – Kardinal Joseph Höffner – höchstpersönlich. Deshalb klagt Melanie F. nun beim Landgericht Köln gegen das Erzbistum als Institution. Es ist die zweite Schmerzensgeldklage dieser Art in Köln.
Der vorläufige Streitwert liegt laut Anwalt Luetjohann bei 850.000 Euro. 830.000 Euro davon sind Schmerzensgeld. Weitere 20.000 Euro seien sogenannter "materieller Vorbehalt für weitere Kosten", also etwa für Therapien. 70.000 Euro hatte Melanie F. bereits von der Kirche bekommen. Nach einer Entscheidung durch die umstrittene Entschädigungs-Kommission der deutschen Bischöfe UKA.
"Welchen Wert hat für das Erzbistum Köln ein ungeborenes Kind?"
In der Klageschrift wird es auch darum gehen, dass Melanie F. zweimal durch den Täter schwanger wurde. Beim ersten Mal bemerkte nur er die Schwangerschaft, nahm sie unter einem Vorwand mit zum Frauenarzt. Dass der eine Abtreibung durchführte, wurde ihr erst Jahre später klar. Die Anwälte formulieren deshalb im Schreiben ans Gericht: "Papst Franziskus bezeichnet Menschen, die eine Abtreibung initiieren oder vornehmen, als Auftragsmörder. Welchen Wert hat für das Erzbistum Köln ein ungeborenes Kind?"
Angst, sich jemanden anzuvertrauen
Als Melanie F. im Februar 2022 an den Tatort zurückkehrt, begleitet ihr Pflegebruder sie. Für ihn brach eine Welt zusammen, als seine Schwester ihm kurz vor ihrer Zeugenaussage im Strafprozess vom Missbrauch erzählte. Er war als Jugendlicher oft eifersüchtig, weil sie so viel mehr Aufmerksamkeit bekam.
Die Kirchenchefs ihres Pflegevaters hätten verhindern müssen, was im Pfarrhaus Ende der 70er- und in den 80er-Jahren passierte, sagen die Geschwister heute. Melanie F. selbst traute sich damals nicht, mit jemandem zu sprechen: "Wegen der Peinlichkeit, so würde ich das beschreiben. Dass man da nicht irgendwas gesteht, wo die Leute dann mit dem Finger auf einen zeigen."
Niemand schützte die Kinder
Wie viel die Menschen im Umfeld des Täters ahnten, wurde im Strafprozess 2022 am Landgericht klar. Immer mehr Zeuginnen und Zeugen sagten aus, sie hätten gewusst, dass "reihenweise Mädchen im Haus des Priesters übernachteten", wie der Richter später zusammenfasste. Aber niemand sagte etwas. Niemand schützte die Kinder.
Dass ein Pfarrer Pflegekinder hatte, war absolut ungewöhnlich. Es stand damals sogar in einem Artikel des "Kölner Stadt-Anzeiger". Rechtsanwalt Luetjohann sagt, dass aus den Akten hervorgehe, wie lange das Erzbistum gezögert habe, bis es dann schließlich doch zustimmte: "Das Erzbistum, der ehemalige Kardinal Höffner, hat in diesem Fall eine Garantie abgegeben, für die Kirche, auch persönlich sogar, als er sagte: 'Du, Pfarrer Ue., darfst dieses Kind als Pflegekind bei dir aufnehmen.'"
Kardinal Woelki könnte sich als heute Verantwortlicher auf die Verjährung der Taten berufen. Aber selbst dann könnte das Gericht den Prozess trotzdem eröffnen. Eine juristische Besonderheit in diesem Fall. Das Erzbistum Köln könne sich zu laufenden Verfahren nicht äußern, teilte ein Sprecher auf WDR-Anfrage am Dienstagabend mit. Von einer Klage sei dem Bistum nichts bekannt.