Eine immer frühere Pubertät ist eine Entwicklung, mit der Eltern bereits seit vielen Jahrzehnten umgehen müssen. Das kann zusätzlichen Stress bedeuten, muss aber nicht. So oder so müssen Eltern damit rechnen, dass Corona das Einstiegsalter in die Pubertät weiter verkürzt haben könnte.
Anfragen zu früherer Pubertät weltweit gestiegen
Michaela Plamper, Oberärztin für Kinder- und Jugendmedizin an der Uni-Klinik Bonn, berichtet im WDR-Interview, dass Daten aus der Pandemie vorliegen, denen zufolge bei Ärzten weltweit mehr Patientinnen angeklopft hätten, um eine zu frühe Pubertät abzuklären. In Deutschland sei eine 30-prozentige Steigerung solcher Abfragen verzeichnet worden.
Oberärztin Michaela Plamper von der Uni-Klinik Bonn
Die Gründe dafür könnten vielfältig sein. So stehe das Coronavirus selbst genauso in Verdacht wie Ernährungsgewohnheiten während der Pandemie, Stress oder ein erhöhter Medienkonsum. Verlässliche Nachweise existierten bis dato keine. Hinweise auf einen Einfluss von Stress oder dem Blaulicht elektronischer Geräte habe es etwa nur im Tierexperiment gegeben: "Es ist immer total schwierig, solche Sachen auf den Menschen zu übertragen", sagt Plamper.
Was sich jedoch sicher sagen lasse, sei, dass die Pubertät seit dem 19. Jahrhundert immer früher einsetze. Lag der Durchschnitt damals noch bei 17 Jahren, so war er Mitte des 20. Jahrhunderts bereits auf 13 Jahre gesunken. Damals habe sich das mit besseren Hygiene-Standards und gesünderer Ernährung erklären lassen, so Plamper.
Großer zeitlicher Spielraum für eine normale Entwicklung
Nach einer Stagnation sei in den USA in den 90er-Jahren ein früheres Brustwachstum bei Mädchen festgestellt worden. In den 1980ern sei ein Mädchen mit elf Jahren in die Pubertät gekommen, was sich erst in den USA, dann in Europa weiter nach vorne verlagert hätte - sodass die meisten Mädchen mit zehn so weit gewesen seien.
Anlass zur Sorge sei das nicht: "Wir sprechen von einer zu frühen Pubertät, wenn die Mädchen Pubertätszeichen vor dem achten Geburtstag zeigen und die Jungen vor dem neunten Geburtstag", erklärt Plamper. Der Zeitraum, in dem die Entwicklung normal verlaufe, sei groß. Bei Mädchen reiche er bis 13,5 Jahre, bei Jungen bis 14: "Alles, was in dieser Zeit beginnt, ist eine normale Pubertätsentwicklung."
Pubertät beginnt lange vor der Menstruation
Plamper erklärt, dass die "zentrale Pubertät", die vom Kopf eingeleitet werde, bei Mädchen zwei bis drei Jahre vor der ersten Periode beginne. Das durchschnittliche "Menarche"-Alter, das ist der Zeitpunkt der ersten Menstruation bzw. Regelblutung, liege jetzt ungefähr bei 13 Jahren.
Schon lange vor der Pandemie seien mögliche Ursachen für die frühere Pubertät diskutiert worden. Zum Einfluss von Chemikalien etwa gebe es Vermutungen, aber keine eindeutigen Daten. Bei Mädchen legten Studien nahe, dass Übergewicht eine vorzeitige Reifung hervorrufen können, bei Jungen nicht. "Es wird ein Zusammenspiel aus ganz vielen Faktoren sein", vermutet Plamper.
Frühe Pubertätszeichen mit Ärzten abklären
Was mögliche Corona-Folgen betrifft, ließe sich nicht mal ausschließen, dass das intensivere Miteinander in Familien einen schärferen Blick auf die Pubertät begünstigt hat: "Wir sind einfach aufmerksamer gewesen, weil unsere Kinder mehr zu Hause waren. Wir haben sie mehr gesehen", sagt Plamper.
Ungeachtet all dessen, was man nicht genau weiß, hat die Ärztin einen wichtigen Tipp für Eltern: Wenn sich bei Mädchen vor dem achten und bei Jungen vor dem neunten Geburtstag Pubertätszeichen zeigen, sollten sie das beim Kinderarzt oder in einem kinderendokrinologischen Zentrum abklären lassen. Bei Mädchen lieferten Brustwachstum bzw. Schambehaarung, bei Jungen Hodengröße und Schambehaarung mögliche Hinweise.
Frühe Pubertät kann Kinder verunsichern
Dass es wichtig sein kann, solche Zeichen abzuklären, weiß Inke Hummel als dreifache Mutter und Erziehungsberaterin. Eine sehr frühe Pubertät sei nicht unproblematisch: "Ganz oft ist die Differenz zwischen dem, was dem Kind schon wichtig ist und dem, was es kognitiv und emotional verarbeiten kann, sehr groß", so Hummel im WDR-Gespräch.
Erziehungsberaterin Inke Hummel
Das könne Verhalten auslösen, das Eltern Probleme bereitet. "Wenn es so große Unterschiede gibt, kann das Kinder sehr verunsichern", sagt Hummel. Das zeige sich auf unterschiedliche Art, manchmal in aggressivem Verhalten. Kinder seien dann sehr abwehrend gegen das, was Eltern sagen - und dies bei früher Pubertät vielleicht schon mit neun oder zehn Jahren. Neben der besseren Hygiene und gesünderen Ernährung, die auch Plamper als Ursachen für die frühere Pubertät betrachtet, sieht Hummel einen weiteren Grund: den "Zugang zu der Welt der Großen". Kinder seien durch Smartphones früher mit Themen konfrontiert, mit denen sich junge Menschen in früheren Zeiten erst deutlich später hätten auseinandersetzen müssen.
Eltern sollen Kindern Spielräume lassen
Als Pädagogin hat sie für Eltern im Umgang mit Kindern in der Pubertät ein paar Tipps: Eltern sollten überlegen, was wirklich diskutiert werden muss. Wo muss man klare Grenzen ziehen, weil Kindern der Überblick fehlt und wo dürfen Kinder "auch einfach mal losmarschieren und vielleicht auch Fehler machen"?
Das seien entscheidende Fragen und Eltern sollten für eine Balance sorgen, die Spielräume lässt. Große Sorgen bereitet Hummel eine frühere Pubertät nicht: "So verändern sich manche Dinge, wie sich auch die Körpergröße verändert, wenn die Ernährung besser wird und die gesundheitlichen Umstände."