Ist das Europa meiner Kindheit bald Geschichte? | MEINUNG

Stand: 29.03.2025, 08:50 Uhr

Schengen feiert diese Woche 30 Jahre Jubiläum, doch unserer Autorin ist nicht zum Feiern zumute. Denn seit 10 Jahren setzen einige Mitgliedsstaaten immer mehr auf Grenzkontrollen. Ist das grenzenlose Europa ihrer Kindheit in Gefahr?

Von Minh Thu Tran

Ich erinnere mich noch an meinen ersten Urlaub in Italien. Ich war sechs Jahre alt, es war 1999. Voller Enthusiasmus haben meine Eltern das Auto vollgepackt, zusammen mit mehreren befreundeten Familien sind wir Richtung Süden gefahren, an Innsbruck vorbei, dann an Bozen, Endziel: Rimini. Schengen galt da gerade vier Jahre, ohne Kontrollen konnten wir durch ganz Europa fahren.

Davor hatten meine Eltern Reisen ins Ausland eher gemieden. Nicht nur wegen der Staus: Mit unseren vietnamesischen Pässen konnten die Kontrollen an den Grenzen auch mal Stunden dauern. Nach den neuen Schengen-Regeln war das Nervigste an der Reise nur noch die Maut - und damals noch der Währungstausch von DM in Lire. Es war ein riesiges Gefühl von Freiheit. Das Meer war auf einmal dank der Reisefreiheit für EU-Bürger nur eine Autofahrt entfernt.

Keine Kontrollen sind das Lebensgefühl Europas

Mit der Selbstverständlichkeit von einem Europa ohne Grenzen, ohne Kontrollen, einem Europa, das immer mehr zusammenwächst, damit bin ich aufgewachsen. Als 2002 der Euro kam, fiel ja sogar das Geld tauschen im Urlaub weg. Immer, wenn wir es uns leisten konnten, packten wir unseren gebrauchten Benz voll mit Taschen, Koffern und Vorräten und fuhren in den Sommerferien weg aus Schwaben. Nach Frankreich, um Familie zu besuchen. In die Niederlande, um Krebse zu sammeln. Einmal fuhr uns mein Vater sogar bis nach Spanien mit dem Auto.

30 Jahre Schengener Abkommen WDR Studios NRW 26.03.2025 06:19 Min. Verfügbar bis 28.03.2027 WDR Online

Mit meiner Einbürgerung, da war ich 18 Jahre alt, wurde ich nicht nur Deutsche, sondern Europäerin. Viel krasser spürbar ist Europa natürlich für die Menschen in den Grenzregionen: Für Freunde von mir aus Aachen ist es vollkommen normal, am Wochenende einfach mal in die Niederlande zu fahren zum Shoppen oder für eine gute Pommes nach Belgien.

Doch in den letzten Jahren ist mehr und mehr spürbar: Die Grenzen gibt es doch. Nach und nach haben sich Grenzkontrollen wieder eingeschlichen. Seit 2015 schon wird in Bayern an der Grenze zu Österreich ständig kontrolliert. Und auch zu den restlichen Nachbarn Deutschlands gibt es seit letztem Jahr Kontrollen. Erst wegen der Fußball-EM, dann im September verlängert wegen Terrorgefahr nach dem Anschlag in Solingen.

Ein Zustand, der auch weiter aufrechterhalten werden soll, wenn es nach dem voraussichtlich nächsten Kanzler Deutschlands Friedrich Merz geht. Er hat sich dafür ausgesprochen, die Grenzkontrollen dauerhaft einzusetzen. Aus Sorge vor irregulärer Migration. Um zu demonstrieren: Wir können was dagegen tun, wir sind politisch handlungsfähig.

Umfrage unter Grenzgängern: Was bedeuten offene Grenzen für Sie? WDR Studios NRW 26.03.2025 00:59 Min. Verfügbar bis 28.03.2027 WDR Online

Irreguläre Migration als Bedrohungslage?

Zerstören wir damit den Geist von Schengen? Das Abkommen hat schon immer Grenzkontrollen vorgesehen - allerdings nur in Ausnahmefällen, zeitlich begrenzt und als letztes Mittel, im Falle einer ernsthaften Bedrohung. Doch seit 2015 wird das immer wieder untergraben - erst an einzelnen Grenzen wie zu Österreich, jetzt an allen Grenzen: Nach Polen, in die Niederlande, Frankreich, sogar nach Luxemburg. Überall wird kontrolliert. Und das tut nicht nur Deutschland. Auch Länder wie Frankreich, Österreich und Dänemark haben immer mehr Grenzkontrollen eingeführt - Kontrollen, die weit das Maß überschreiten, das im Schengener Abkommen vorgesehen ist.

Eigentlich könnte die EU dagegen vorgehen. Die Kommission könnte gegen Länder wie Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren anstoßen. Doch Europa ist untätig geblieben. Will die EU Konflikte mit den Mitgliedsstaaten vermeiden? Wahrscheinlich. Damit schaffen die Mitgliedsstaaten allerdings auch Tatsachen. Das Schengener Abkommen wird immer weiter untergraben - aus Angst vor irregulärer Migration.

Ist das Schengen-Abkommen noch zeitgemäß?

Ein Europa ohne Grenzkontrollen, das ist eine der spürbarsten Vorteile für uns Europäer. Doch es gibt nicht nur emotionale Gründe dafür. Kontrollen sind nicht nur für uns Steuerzahler teuer - alleine für sechs Wochen Kontrollen im Herbst fielen Zusatzkosten von 12,3 Millionen Euro für die Bundespolizei an. Auch die deutsche Wirtschaft befürchtet Verluste, denn Zeit ist buchstäblich Geld. Zusätzliche Wartezeiten an den Grenzen für LKW, die Waren und Güter transportieren, kostet die Händler Unmengen an Geld: laut Berechnungen bis zu 1,1 Milliarde Euro pro Jahr.

Ob die Kontrollen Sinn machen? Das frage ich mich ständig. Einerseits kann ich das höhere Sicherheitsbedürfnis völlig verstehen. Andererseits finden Migranten doch auch andere Wege ins Land - über Schleichwege, über Felder, Wald und Wiesen. Wir können schließlich nicht alle Grenzen Deutschlands lückenlos kontrollieren. Außerdem signalisieren die Kontrollen bei der Bevölkerung: Terrorismus und irreguläre Migration stünden miteinander im Zusammenhang. Dabei sind viele der Täter hier geboren oder haben sich hier radikalisiert.

Der Spagat zwischen mehr Sicherheit und Schengen-Freiheit

Die Frage, wie wir es schaffen können Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen und trotzdem das Gefühl von freien Grenzen in Europa zu bewahren, ist mit Sicherheit zu komplex, um es in dieser Kolumne zu beanworten. Trotzdem möchte ich ein paar Gedanken dazu verlieren. Denn die letzte Wahl hat deutlich gezeigt, dass von der Politik erwartet wird, dass sich etwas tut:

Innere Sicherheit müsste durch Maßnahmen innerhalb Deutschlands gegen Radikalisierung und den Kampf gegen menschenfeindliche Ideologien gesichert werden, nicht an den Grenzen Deutschlands. Wer etwas gegen die kriminellen Schleuserbanden tun will, sollte vielmehr auf verdeckte Ermittlungen und Schleierfahndungen setzen, statt auf stationäre Kontrollen an den Autobahnen, die ja auch leicht umgehbar sind. Das fordert übrigens auch die Gewerkschaft der Polizei.

Es macht mich traurig, dass die deutsche Regierung, sowohl die scheidende Ampelregierung, als auch die wohl kommende schwarz-rote Regierung auf Grenzkontrollen setzen, um zu zeigen, dass man doch was machen kann gegen das Problem der irregulären Migration. Dass das der falsche Weg ist und Europas gemeinsame Werte aufs Spiel setzt, der Meinung ist auch Migrationsexperte Gerald Knaus. Er verweist darauf, dass wir irreguläre Migration nur gemeinsam als EU lösen können. Etwa mit Drittstaatenabkommen, wie dem Abkommen mit der Türkei, um Menschen daran zu hindern, überhaupt nach Europa zu kommen – einem Abkommen, das er maßgeblich mitgestaltet hatte. Was die Kontrollen an den deutschen Grenzen in der heutigen Form stattdessen wirklich auslösen: Staus, Frust und mit der Zeit einen Raubbau an der Vision des grenzenlosen Europas meiner Kindheit.

Haltet ihr die Grenzkontrollen für sinnvoll oder macht ihr euch Sorgen, dass es das Schengener Abkommen so wie mal angedacht nicht mehr geben wird? Lasst uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

Kommentare zum Thema

  • Anonym 05.04.2025, 08:48 Uhr

    Mir fehlt bei diesem Thema das kleine Wort Integration. In meiner Verwandtschaft ist der erste Syrer angekommen. Es geht auch anders.

  • Anonym 04.04.2025, 16:43 Uhr

    Die ganze Welt steckt in einer länger , Jahre andauernden tiefen Rezession fest ; die bald zu Massenarbeitslosigkeit führen wird . Wie naiv muß man eigentlich noch sein, offene Grenzen bei weltweit höchsten Sozialleistungen in D für Migranten zu fordern, wie es aber Rotgrün einfordert. Das wirkt nämlich wie ein großer Magnet bzw. Staubsauger , besonders in der 3. Welt, die ebenfalls in der Rezession steckt. . Wenn das nicht unverzüglich geändert wird, ruiniert sich D und begeht , wie von Vance völlig zu recht festgestellt, "Suizid". Fast alle älteren Semester wissen bzw. ahnen das aus Erfahrung , nur nicht die heutigen rotgrünen Entscheidungsträger. Sie sind damit regierungsuntauglich.

    • Kometenblick 04.04.2025, 19:29 Uhr

      Die Welt wird woanders wachsen. Nicht mehr in Deutschland. Dienstleistungen werden nicht der Heilsbringer für Deutschland sein. Rüstungsgüter für die Halde zu produzieren auch nicht. Wenn Deutschlands Wirtschaft schrumpft, werden Religionen Einfluss bei denjenigen gewinnen, die dafür besonders empfänglich sind. Soziale Unruhe wird ausgelöst. Statt Laizismus erleben wir dann eine Kakistokratie. Dieser Weg ist vorgezeichnet, wird aber von vielen noch nicht gesehen. Wie kann man die Politik wachküssen?

    • Ylander 04.04.2025, 20:04 Uhr

      RotGrün weiß das ganz genau, und will dies auch, und forciert dies auch unter grober Missachtung geltenden Rechts. RotGrün profitiert nämlich davon, eingebunden in ein ausgedehntes Netzwerk der Flüchtlingsindustrie auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung. Je mehr Bürger dies erkennen, desto besser die Chancen, dass diese Praxis beendet wird.

    • @Ylander 05.04.2025, 08:29 Uhr

      Allzu große Worte und nur Luft dahinter. Die Restampel vulgo rotgrün befindet sich geschäftsführend noch im Amt und kann und wird auf die letzten Tage keine großen Sprünge mehr machen. Vorher gab es die Ampel und ihre Unterstellungen sind einfach nur erfunden und behauptet. Weil Quellen Beweise geben Sie nicht an. Bitte trennen sie Tatsachen von Meinungen und Gefühlen. Und hören sie auf Gefühle und Meinungen für Tatsachen zu verkaufen.

  • B.S.Forum 04.04.2025, 16:26 Uhr

    Bei uns hat der Tank immer bis zum Allgäuer Tor gereicht. Pause, Thermoskanne mit Kartoffelsalat. Später, hatte ich auf eigenen Reisen trotz Schengen immer Sorge, dass die Warntafel am Fahrradständer nicht der vorgeschriebenen Norm entsprach. Der kritische Blick der Carabinieri zwickte schon ein wenig. Oder kurz hinter der österreichischen Grenze richtete sich die Pickerl-Kontrolle gegen ein wohlig entspanntes Fahren. Vor der Pickerleinführung war die größte Sorge meiner Eltern, dass der 80 prozentige Strohrum als Mitbringsel innerhalb der Verwandtschaft nicht für alle reichte. Europa hat noch einen weiten Weg vor sich. Das bisher Erreichte dürfen wir aber auch nicht geringschätzen. Danke für die Kolumne und dass Sie mich auf dem Gepäckträger in Schilderung Ihrer eigenen Reiseerfahrung ein wenig mitnahmen.