Merz über Asylbewerber in Deutschland: "lassen sich Zähne neu machen" | sv

00:55 Min. Verfügbar bis 28.09.2025

Zahnbehandlung für Asylbewerber? Warum Merz' Aussage so nicht stimmt

Stand: 29.09.2023, 18:12 Uhr

"Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen" - das sagt CDU-Chef Friedrich Merz über Migranten. Kritiker sprechen von Populismus. Was ist dran?

Von Christina Höwelhans und Andreas Poulakos

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat der Bundesregierung in einer Talkshow des Senders Welt indirekt vorgeworfen, durch zu großzügige Sozialleistungen die illegale Migration zu fördern. "Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen", hatte Merz behauptet. Einen Unterschied zwischen ausreisepflichtigen und geduldeten Migranten machte der CDU-Vorsitzende dabei nicht. "Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine."

Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schrieb auf X (früher Twitter): "Das ist erbärmlicher Populismus auf dem Rücken der Schwächsten." Außerdem sei die Aussage schlicht falsch. Hingegen zeigte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) Verständnis für die Aussagen seines Parteifreunds. Fakt sei, dass durch die hohe Zahl der Geflüchteten auch die sozialen Sicherungssysteme überlastet seien, sagte Wüst am Donnerstag dem WDR. "Ich glaube, das ist es, worauf Friedrich Merz hinweisen wollte."

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, die Aussagen von Merz entsprächen nicht der rechtlichen Lage. Er solle "besser auf seine Worte aufpassen". Die Linken-Politikerin Daphne Weber hat eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den CDU-Parteichef erstattet. Begründung: Seine Hetze gegen geflüchtete Menschen diene in erster Linie einem Wahlkampfmanöver und gefährde damit den öffentlichen Frieden. Die Politikerin kündigte an, die Aufhebung der Immunität von Merz erreichen zu wollen.

Die wichtigsten Fragen und Antworten

Wie ist die zahnärztliche Versorgung von Flüchtlingen geregelt? Sind vergleichsweise gute Sozialleistungen tatsächlich ein wichtiger Grund für illegale Migration nach Deutschland? Und würde eine Kürzung der Leistungen den Migrationsdruck auf Deutschland lindern? Fragen und Antworten.

Haben Asylbewerber wirklich Anrecht auf eine kostenlose Zahnsanierung?

Ein Zahnarzt setzt einer Patientin eine Zahnprothese ein

Zahnersatz nur im Notfall

Ganz so einfach ist es nicht. Die medizinische Versorgung von Asylbewerbern und Geduldeten ist im Asylbewerberleistungsgesetz festgelegt. Zahnärztliche Behandlungen gibt es demnach nur, wenn eine Erkrankung vorliegt - zum Beispiel akute Zahnschmerzen. Zahnersatz bekommen die Geflüchteten nur dann, wenn "dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist". Die Entscheidung liegt dabei beim behandelnden Arzt.

In einem Merkblatt der Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung heißt es: "Jeder Zahnarzt muss auf Grund der individuellen Situation des Patienten entscheiden, welche Untersuchungen und Behandlungen (...) notwendig und abgedeckt sind. (...) Unter Umständen berechtigt erst der akute Schmerzfall eine Behandlung."

Hat ein Geflüchteter zum Beispiel schon bei der Einreise viele Zahnlücken, die ihn aber im Alltag nicht weiter behindern, so hat er in der Regel keinen Anspruch auf Zahnersatz. Anders sieht das aus, wenn der Betroffene Probleme bei der Nahrungsaufnahme hat: Dann liegt eine Krankheit vor, die eine zahnärztliche Behandlung rechtfertigt.

Verbessert sich die medizinische Versorgung nach längerem Aufenthalt in Deutschland?

Ja. Nach 18 Monaten in Deutschland haben auch Geflüchtete ohne Aufenthaltstitel (also abgelehnte Asylbewerber und Geduldete) Anrecht auf eine Gesundheitsversorgung, die mit den Leistungen der Versicherten in einer gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbar ist. Auch wenn sie nicht in allen Bundesländern formal Mitglieder einer Krankenversicherung werden, erhalten sie alle eine Gesundheitskarte. Die Kosten trägt dabei weiterhin das Sozialamt.

Grundsätzlich haben sie damit Anspruch auf Zahnersatz wie jeder andere Versicherte auch - müssen aber zumindest theoretisch einen Teil der Behandlungskosten selbst übernehmen. Weil dem Großteil der Geflüchteten dafür die finanziellen Mittel fehlen, gelten für sie die gleichen Regeln wie für bedürftige Deutsche. Für sie greift eine Härtefallregelung und die Kosten werden übernommen: allerdings nur für eine solide Standardlösung, nicht für höherwertigen Zahnersatz.

Bekommen Deutsche keine Termine, weil Zahnärzte so viele Geflüchtete behandeln müssen?

Patienten warten im Wartezimmer einer Arztpraxis.

Volle Zahnarzt-Wartezimmer sind nicht nur mit Migration zu erklären

Das ist offenbar falsch. Die Bundeszahnärztekammer sieht keine Überlastung des Gesundheitssystems durch ausreisepflichtige Migranten. Die Kammer teilte am Donnerstag dem WDR mit, dass man in den zahnärztlichen Praxen "in der Regel problemlos Termine" bekomme. Im ländlichen Raum könne es hingegen zu längeren Wartezeiten kommen. Das liege aber nicht an den Geflüchteten, sondern am Ärztemangel in vielen Regionen.

Terminprobleme bei Zahnärzten sieht auch NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) nicht. Im WDR sagte er, in seinem Ministerium seien keine Beschwerden von Bürgern bekannt. Aber abgesehen davon gehöre schon zur Wahrheit, dass Städte und Kommunen stark unter Druck stünden.

Locken die guten deutschen Sozialsysteme Flüchtlinge aus aller Welt nach Deutschland?

Diese Ansicht wird von Parteien wie der AfD immer wieder aufgegriffen. Auch Friedrich Merz hatte bereits mehrmals gewarnt, Sozialleistungen für Geflüchtete seien ein "falscher Anreiz" und zum Teil dafür verantwortlich, dass die illegale Migration nach Deutschland immer weiter zunehme.

Faktoren, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat treibt

Merz beruft sich dabei auf die Theorie von "Push- und Pull-Faktoren", mit denen US-Soziologen in den 1960er-Jahren versuchten, globale Migrationsbewegungen zu erklären und vorherzusagen. Push-Faktoren beschreiben dabei die negativen Bedingungen im Herkunftsland, die Menschen zur Flucht motivieren. Dazu zählen beispielsweise Kriege, Umweltkatastrophen oder Armut. Pull-Faktoren wiederum sind positive Umstände im Zielland, die Menschen "anziehen" - wie ein hoher Lebensstandard, Bedarf an Arbeitskräften oder auch großzügige Sozialleistungen.

Gibt es auch alternative Erklärungen?

In der modernen Migrationsforschung gilt die Theorie von "Pull"-Faktoren inzwischen als veraltet, weil sie Migration fast ausschließlich mit einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnung erklärt. "Ich würde sagen, es ist eine sehr vage Idee, mehr nicht", sagte vor einiger Zeit Frank Kalter, Direktor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Wenn die Menschen allein aus wirtschaftlichen Gründen ihre Zielländer aussuchen würden, dann "müsste die ganze Welt in Bewegung sein", so Kalter. Das sei sie aber nicht.

Menschen auf der Flucht nach Europa

Flüchtlinge müssen jede Chance nutzen

Aktuellen Studien zufolge spielen soziale Faktoren eine viel größere Rolle bei der Wahl eines Fluchtziels als wirtschaftliche Interessen. So hoffen viele Geflüchtete, bei Verwandten und Freunden unterzukommen, die bereits in Deutschland leben. Wohin Menschen flüchten, sei darüber hinaus meist nicht von langer Hand geplant, sondern hänge oft von sehr kurzfristigen Entscheidungen ab. Die Bewegungsfreiheit von Geflüchteten sei stark eingeschränkt, sie müssten bei der Wahl ihres Ziels flexibel sein und jede Chance nutzen.

Allerdings gibt es auch Studien, die scheinbar die Theorie von "Push"- und "Pull"-Faktoren unterstützen. Die bekannteste stammt dabei von Forschern der Princeton University, die Einwanderungszahlen in Dänemark zwischen 1980 und 2017 untersucht haben. Das Ergebnis: Wurden die Sozialleistungen gekürzt, sanken auch die Flüchtlingszahlen. Allerdings gibt es Kritik an der Studie, weil sie viele Faktoren unberücksichtigt ließ. Zum Beispiel habe Dänemark den Umgang mit Geflüchteten im Untersuchungszeitraum mehrmals neu geregelt und etwa den Familiennachzug eingeschränkt.